"Sonderbare Gedanken befielen ihn. Aggression und Gewalt, was in seiner
Welt mit Gesetzen und Strafen bekämpft wurde, erschienen ihm erneut in einem
anderen Licht. Dieser Logik nach wurden nicht jene Menschen gewalttätig, die
zu viele Horrorfilme schauten oder sich mit diesen sogenannten
gewaltverherrlichenden Computerspielen abgaben, sondern jene, die zu lange
brav waren. Für ihn war aus dem Impuls zu Gewalt und Aggression ein Instinkt
der Selbsterhaltung und der Befreiung geworden. Aggressive Jugendliche und
die vielen anderen besorgniserregenden Randgruppen der westlichen Welt
waren vielleicht allesamt Opfer einer fehlgelaufenen
Persönlichkeitsentwicklung. Welcher Jugendliche wollte nicht wegrennen und
die öde Normalität seiner Familie verlassen? Vielleicht wäre es besser, alle
Menschen in einem gewissen Alter auf Reisen zu schicken und ihnen die
Rückkehr erst nach einigen Jahren zu erlauben, so wie es bei den Zimmersleuten
immer noch üblich war. Stattdessen wurden Impulse, sich die Freiheit des
eigenen Lebens zu erwerben, bekämpft und als Unsinn und Zeitverschwendung
abgetan. Das Ergebnis waren dann Menschen, deren Drang nach Freiheit und
eigenverantwortlichem Leben im Keim erstickt wurde. Sie verloren sich selbst,
noch bevor sie überhaupt erwachsen waren. Die jämmerlichen Selbstzweifel und
die Orientierungslosigkeit, womit sie dann – wie er selbst – durch ihr späteres
Leben irrten, waren einfach frustrierend. Diese nagenden Unsicherheiten
loszuwerden, erschien ihm unglaublich wichtig. Vielleicht konnten sich vor
allem die Männer nicht richtig entwickeln, solange ihre aggressiven und wilden
Elemente verdrängt blieben. Er sehnte sich nach Schärfe, Klarheit und
Kompromisslosigkeit.
Nicht nur was Beziehungen betraf, glichen die Männer seiner Generation
zahnlosen dummen Jungen, auch das öffentliche Leben krankte an der
oberflächlichen Vermeidung dieser archaischen Kräfte. Politiker konzentrierten
ihre gesamte Karriere darauf, eine moralisch saubere Weste zu bewahren, und
während sie soziale Absichten predigten, paktierten sie im Geheimen mit den
übelsten Wirtschaftskannibalen. Egoistisch oder aggressiv genannte zu werden,
war eine der schlimmsten Ächtungen der Neuzeit. Mit moralischen Ansprüchen
und Angstmacherei hielt man die Menschen im Zaum. Dieses eine Prozent der
Menschheit, welches alle Macht und alles Kapital in Händen hielt, führte sich
hingegen auf wie die Berserker. Es musste doch möglich sein, ein gesundes
Gleichgewicht zwischen diesen konträren Kräften zu finden. Auch die
sogenannten Friedensbewegungen schienen ihm falsch zu liegen. Die waren
genauso einseitig wie ihre Gegner."
Aus: >> "Selbst" verloren - Von einem, der sich zum Glück nie gefunden hat. <<
Autor: Andreas Neumann
S. 50/51
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