Die berufliche Bühne

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Pferdedieb
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Die berufliche Bühne

Beitrag von Pferdedieb »

Hallo zusammen,

der Threadtitel mag etwas inhaltsleer klingen, daher der Hintergrund dazu:

Da viele von unserer Gattung sich durchaus als "zurückhaltend / schüchtern / wortkarg" etc. bezeichnen würden, frage ich mich, wie das im Berufsleben aussieht? Nicht wenige von uns haben dadurch Probleme im Umgang mit anderen Leuten.

Bei mir ist das so ein "Phänomen", dass ich bei "Smalltalk" oftmals nur Wortfetzen sage oder Gespräche aufgrund meiner Schüchternheit vermeide. Aber ich muss beruflich dennoch sehr viel mit anderen Leuten und auch vor anderen Leuten sprechen. Das bereitet mir keine Probleme. Im Gegenteil. Ich kann, nennen wir es eine "Präsentation", vor einer Gruppe von Leuten halten, Zusammenhänge erklären, Fragen beantworten etc. Und das in kompletten Sätzen und gutem Hochdeutsch. (Ich bin kein Lehrer, zumindest nicht im klassischen Sinne. Die Tätigkeit ist aber ähnlich.)

Wie gesagt, das ist im Beruf. Und das, obwohl ich sonst die Schüchternheit in Person bin.

Wenn ich zehn Minuten später beim Bäcker ein belegtes Brötchen möchte, komme ich fast ins Stottern oder werde gefragt, was ich möchte, weil ich vorher zu leise geredet habe. Der kurze Wortwechsel mit der Verkäuferin ist mir unangenehm und bringt mich verbal in Schwierigkeiten.
Das geht mir jedoch nicht nur mit jungen, hübschen Frauen so, sondern allgemein in sozialen Situationen, auch mit bereits bekannten Leuten.
Auch bei Männern.

Beruflich kann ich mich jedoch zwei Stunden lang verbal ergießen, ohne dass ich ängstlich bin oder Fluchtgedanken bekomme.
Wie ist das möglich?

Es soll ja dieses Phänomen auch bei Schauspielern geben, die auf der Bühne "abgehen", aber privat total zurückgezogen sind.
Daher der Threadtitel "Die berufliche Bühne."

Trotzdem bin ich über mich selbst verwundert. Meiner Natur nach sollte ich wohl beruflich eher Fließbandarbeit machen, da man mir privat kaum attestieren würde, dass ich vor anderen Leuten zu einem Redetalent werde. Weil privat halt wenig aus mir raus kommt.
Vielleicht ist es auch so, weil ich gar nicht anders kann, als so zu handeln. Wenn ich mich beruflich nicht so verhalte, kann ich diesen Beruf nicht ausüben. Also muss ich es tun - und werde dadurch sogar "gut"?

Aber dennoch wundert es mich, dass ich in sozialen Situationen, die häufig wesentlich einfacher gestrickt sind als die berufliche Kommunikation, versage. Hart an der Grenze zur Sozialphobie.

In meinem Schulzeugnis würde wohl stehen: Zu verklemmt zum Brötchen kaufen, kann aber einen Fachvortrag vor Publikum halten. :hammer:

Ich kann diese beiden Verhaltensweisen einfach nicht unter einen Hut bringen. Geht das überhaupt? Starke Introversion in allen privaten Situationen, aber im Beruf der geschätzte Referent? Hab ich eine bipolare Störung!?
Manchmal denke ich, ich habe zwei Persönlichkeiten - eine für den Beruf und eine fürs Private - und die sind scheinbar klar voneinander getrennt und lassen sich nicht zusammenbringen.

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Valentin
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Re: Die berufliche Bühne

Beitrag von Valentin »

Deine Schilderung wirkt auf mich so, als dass Du Dich in den beruflichen Situationen sicher fühlst. Diese Sicherheit mag möglicherweise dadurch entstehen, dass Du Deinen Beruf sehr gerne und sehr gut ausübst und Dir dies die Sicherheit gegenüber anderen gibt. Du bist derjenige, der Bescheid weiß, Du bist derjenige, der sich auskennt, Du bist derjenige, der ggf. mehr Informationen, mehr Wissen, mehr Ahnung zum Thema vorweisen kann und weiß, auf jede Rückfrage eine Antwort oder eine Lösung parat zu haben. Du bist in einer Situation, in einer Rolle, in der Du Dich dadurch wohlfühlst. Hier kann Dir keiner etwas.

Bist Du nun der Bittsteller, verlässt Du diese Rolle. Selbst beim Bäcker einen konkreten Wunsch zu äußern, fällt Dir schwer; vielleicht machst Du Dir unbewusst Sorgen und Gedanken darüber, wie Du wirkst und wirst schon allein dadurch unsicher:
"Ist die Auswahl der gewünschten Ware sozialverträglich. Was denkt die Verkäuferin, wenn ich ein mit Schinken belegtes Brötchen kaufe und sie Vegetarierin ist? Sie wird mich hassen."
"Hoffentlich wird mir keine Rückfrage gestellt, auf die ich mir keine Antwort zurecht gelegt habe. Mit Salatblatt oder ohne, dabei sahen die Brötchen auf den ersten Blick alle gleich aus."
"Kann ich den Preis von 2,35€ auch mit einem 10-Euro-Schein bezahlen?"

Du verlässt die Zone, in der Du der 'Experte' bist.
Ist es so oder so ähnlich?
Wie geht es Dir dabei?
Wo siehst Du Dich eher, welche Ausprägung wirkt in Dir stärker: der 'Erfolgreiche' in beruflichen oder der 'Unsichere' in anderen Situationen? Freust Du Dich mehr über die Anerkennung im Beruf (auch jene, die Du Dir selbst zukommen lässt) oder ärgerst Du Dich mehr über die Fahrigkeit in Situationen außerhalb des Beruflebens?
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Reinhard
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Re: Die berufliche Bühne

Beitrag von Reinhard »

Das kenn ich von mir auch. Beruflich kann ich lang und breit Sachverhalte erklären, auch mal intelligente Fragen stellen und zugeben, wenn ich mal was nicht weiß. Da fällt mir kein Zacken aus der Krone, obwohl ich mich dabei nicht gerade gut fühle, wenn ich wen anders enttäuschen muss. :schuechtern:

Aber bei anderen sozialen Situationen fällt es mir schwer. Ich fühle mich, als würde ich die Leute belästigen, dabei sind sie gerade dazu da, um einem beispielsweise ein paar Semmeln zu verkaufen. Ich glaube ich habe es identifiziert als ein Problem, Wünsche zu äußern und dazu zu stehen. Wobei es komischerweise nicht von der Größe des Wunsches abhängt. :gruebel:


Aber beruflich habe ich nun mal selten Wünsche solcher Art. Und wenn ich da mal an welche weitergebe, dann gehen sie nicht von mir aus, sondern kommen von außen ...
Make love not war!
FrankieGoesTo...

Re: Die berufliche Bühne

Beitrag von FrankieGoesTo... »

Ich kenne diese Diskrepanz bei mir zwischen Bühne und Alltag. Auf der Bühne grosse Klappe, vor der Bühne pieps...
Ist aber inzwischen schon besser geworden. Grosse Klappe ist nun öfters auch im Alltag zu hören. Bisher auch ohne negative Folgen :boxing: ...
Ist so wie Valentin sagt, wenn man sich sicher fühlt, flutscht es.
Nonkonformist

Re: Die berufliche Bühne

Beitrag von Nonkonformist »

Ich bein ein Erst mal sehen wie die Hase läuft - typ.

Das bedeutet das ich gegenüber unbekannten zuerst mal sehr zurückhaltend bin.
Gleichgültig wo das ist; in der arbeit, früher in der schule; auf partys; in kneipen oder diskos,; in supermärkte, aif den strand, usw.
Ich brauche in der regel wesentlich mehr als einen einzigen tag um für jemanden auf zu wärmen und locker zu werden.

Deswegen entsteht bei mir aus flüchtige begegnungen selten bis nie etwas.

In der arbeit trefft man seinen (neuen) kollegen sehr regelmäßig, gibt es ausreichend zeit um sich kennen zu lernen, wird ich den immer weniger unbekannte neuen immer lockerer gegenüber und entstehen, über wochen, freundschafte und verliebtheiten. (Oder das gegenteil; ich lerne das ich mit bestimmte menschen gar nichts kann, und beschränke das kontakt auf ein minimum.)

Im wild, bei einmalige begegnungen, passiert mir das alles nicht.

In einen kreis von befreundete kollegen bin ich after work auch häufig in kneipen und manchal sogar diskos gegangen, und hatte ich dabei spaß. Alleine in kneipen oder diskos gehen ist für mich nur stress; ich fühle mich zwisschen fremden nicht wohl und wird da auch keinem kennen lernen.
Endura

Re: Die berufliche Bühne

Beitrag von Endura »

Beruflich bin ich genauso unbeholfen wie privat. In Meetings bin ich still. Präsentationen halte ich nicht. Teilweise bekomme ich vor einem simplen Telefonat Angst und schiebe es endlos vor mir her. Stressige Phasen im Job machen mich auch körperlich krank, daher bin ich auch viele, viele Tage im Krankenstand. Ich warte ehrlich gesagt, jeden Augenblick darauf, dass mein Chef sagt "So geht es nicht weiter!" und mich kündigt.
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Re: Die berufliche Bühne

Beitrag von Siegfried »

Valentin hat geschrieben: 16 Mär 2018 21:47 Deine Schilderung wirkt auf mich so, als dass Du Dich in den beruflichen Situationen sicher fühlst. Diese Sicherheit mag möglicherweise dadurch entstehen, dass Du Deinen Beruf sehr gerne und sehr gut ausübst und Dir dies die Sicherheit gegenüber anderen gibt. Du bist derjenige, der Bescheid weiß, Du bist derjenige, der sich auskennt, Du bist derjenige, der ggf. mehr Informationen, mehr Wissen, mehr Ahnung zum Thema vorweisen kann und weiß, auf jede Rückfrage eine Antwort oder eine Lösung parat zu haben. Du bist in einer Situation, in einer Rolle, in der Du Dich dadurch wohlfühlst. Hier kann Dir keiner etwas.
Genauso gibt es aber auch Leute, die es drauf haben und sich wohl und sicher fühlen wenn es darum geht in sozialen Interaktionen zu agieren dann aber womöglich in beruflichen Dingen eher zurückhaltend und schüchtern sind.

Ich sehe das z.B. bei älteren Kollegen und Kolleginnen die nicht mit dem PC aufgewachsen sind und nun immer unsicher sind und Angst haben was falsch zu machen wenn Sie am PC was neues machen sollen. Die gleichen Leute kannst du aber auf jede Feier schicken wo sie sich dann Stundenlang mit anderen quatschen und feiern können.
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Re: Die berufliche Bühne

Beitrag von Elli »

Kann ich gut nachvollziehen. Das sind verschiedene soziale Rollen. In manchen fühlt man sich sicherer, weil man sich auskennt und gut darin ist, aber auch, weil bestimmte Erwartungen nicht daran geknüpft sind. Wenn Du nur im Beruflichen total sicher bist, wird das zB auch daran liegen, dass man sich da nicht nackig machen, im Sinne von: keine Emotionen und vielleicht auch keine spontanen Reaktionen (?) zeigen muss, was sich bei privater Interaktion eben auf Dauer nie ganz vermeiden lässt.
Oder/und man hat im einen Bereich immer ganz gute Erfahrungen gemacht und positive Verstärkung erlebt, im anderen immer nur Rückschläge.
Ich kenne sowas auch, es ist aber nicht so klar zugeordnet (Beruf/privat), sondern es gibt mehr verschiedene Modi. ZB völlig verschüchterter Modus (oft in der Gruppe), zugewandter Modus (im Zweiergespräch), professioneller Modus, exaltierter Party-Modus (da bin aber selten nüchtern) etc. Ist auch tagesformabhängig und so. Prinzipiell ist es nicht ungewöhnlich, dass man in verschiedenen Rollen unterschiedlich sicher auftreten kann - Bühnenmodus an/aus heißt nicht gleich, dass man eine bipolare Störung hat.
Ich kann meine Unsicherheit aber inzwischen so halbwegs überspielen - nicht in allen Situationen, aber in vielen. Leute, die mich noch nicht so lange kennen, zeigen sich manchmal erstaunt, wenn ich sage, dass ich soziale Ängste habe (die mir eigentlich auch jeden Tag präsent sind, mir fallen auch so einfache Sachen schwer wie irgendwo anrufen zB). Man kann sich da auch Strategien/ein Repertoire zurechtlegen und die Angst zumindest etwas dadurch abmildern, dass man weiß, wie man zu reagieren hat. Ist aber leider ein langwieriger, mühseliger Weg.
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Re: Die berufliche Bühne

Beitrag von Siegfried »

Elli hat geschrieben: 17 Mär 2018 10:35 Man kann sich da auch Strategien/ein Repertoire zurechtlegen und die Angst zumindest etwas dadurch abmildern, dass man weiß, wie man zu reagieren hat. Ist aber leider ein langwieriger, mühseliger Weg.
Das funktioniert aber auch nicht überall. Irgendwo anzurufen wo man schon im Vorfeld einen Kontext hat und abschätzen kann welche Fragen kommen könnten mag das ja gut funktionieren. Auf einer gewöhnlichen Feier wo es im Prinzip keinen Kontext gibt und sich die Gespräche in alle mögliche Richtungen entwickeln können bringt einem das irgendwie gar nichts da man sich da ja überhaupt nicht vorbereiten kann.