Mein Gedanke ist, dass eine geringe Fähigkeit zur Mentalisierung eine Erklärung dafür sein könnte, warum jemand AB ist. Oder noch grundlegender: warum jemand Schwierigkeiten in der Kommunikation mit anderen Menschen hat.
Die Ich-Funktion der Mentalisierung ist die Fähigkeit, mit eigenen und fremden mentalen Zuständen reflektierend umzugehen, ohne direkt handeln zu müssen. Es ist die Fähigkeit, sich selbst und wichtige Bezugspersonen als durch Bedürfnisse und Wünsche motiviert und durch Erwartungen und Überzeugungen beeinflusst wahrzunehmen sowie die Fähigkeit, Hypothesen über mentale Zustände oder Motive anderer Personen zu bilden. Dazu gehört die Fähigkeit, unterschiedlichen Perspektiven einzunehmen und sich empathisch in andere Menschen hineinzuversetzen. Es geht jedoch nicht um eine abstrakte Fähigkeit, gemeint ist vielmehr die Fähigkeit, sich emotional einzulassen und sich gleichzeitig selbst zu beobachten. […]
- Menschen mit guter Mentalisierungsfähigkeit sind reflektiert, sie haben Interesse an anderen Menschen und interessieren sich für deren Gefühle, Wünsche, Motive und Einstellungen. Sie interessieren sich für die Beweggründe und Absichten anderer Menschen, nicht nur für das Ergebnis ihrer Handlungen. Sie haben eine gute zwischenmenschlichte Beobachtungsgabe und können gut unterschiedliche Perspektiven einnehmen, Fantasien nutzen und „mit der Realität spielen“. Sie sind offen für Neues und haben eine selbstkritische und flexible Haltung. Sie fühlen sich nicht im Besitz absoluter Wahrheiten, sondern vermitteln den Eindruck interessierten Fragens und Nichtwissens.
- Menschen mit geringer Mentalisierungsfähigkeit zeigen hingegen wenig Bereitschaft, reflektierend mit sich und anderen Menschen umzugehen. Ihre Fähigkeit zur Einnahme unterschiedlicher Perspektiven ist gering. Stattdessen beziehen sie mehrdeutige Situationen oft auf sich und unterstellen anderen eine nicht gerechtfertigte Schädigungsabsicht. Sie neigen dazu, ihre eigene Beteiligung an den immer wieder auftretenden zwischenmenschlichen Schwierigkeiten zu leugnen. Stattdessen müssen sich „die Anderen“ oder „die Verhältnisse“ ändern. Oft haben sie eine allzu klare bis dogmatische Vorstellung, was richtig und falsch ist, und sie glauben genau zu wissen, warum sich etwas so und nicht anders verhält. Manchmal leugnen sie auch unbestreitbare objektive Realitäten oder sie führen bizarre Erklärungen für Sachverhalte an, deren Gründe in Beziehungen zu suchen sind, und schreiben die Ursache physikalischen oder abstrakten Mächten zu: die Schuld liegt beim Wetter, bei der Umwelt oder bei den Genen. Entsprechend sind die zwischenmenschlichen Beziehungen voll von Missverständnissen und Unstimmigkeiten.
Quelle: Wolfgang Wöller, Johannes Kruse: Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Basisbuch und Praxisleitfaden. Stuttgart 2015, S. 343-344.
Dafür, dass die Fähigkeit zur Mentalisierung bei einigen Menschen nicht so stark ausgeprägt ist, gibt es Gründe, die in der Biografie dieser Menschen liegen. Es ist aber durchaus möglich, die Fähigkeit zur Mentalisierung gezielt zu trainieren und zu verbessern.
Sehr schön finde ich die Definition auf einer Internetseite:
„Mentalisieren heißt, sich selbst von außen zu sehen und den anderen von innen.“
Die Frage an ABs wäre: Kannst du mit dir selbst und mit anderen Menschen auf eine solche Weise umgehen?