Axolotl hat geschrieben: ↑19 Dez 2019 11:23
Le Chiffre Zéro hat geschrieben: ↑19 Dez 2019 09:06
Wenn man wie ich in einer Metropole mit engem ÖPNV-Netz wohnt, wo in Gehweite Busse alle 5 Minuten und Schnellbahnen mindestens alle 10 Minuten fahren, ist das kein Problem. Problematisch würde hier eher die Frage für Pkw-Fahrer, wohin mit dem Wagen, wenn man ihn gerade nicht braucht. Die meisten Stadtviertel sind entstanden vor der Massenmotorisierung, und man hat nicht für jede einzelne Wohnung mindestens einen Stellplatz vorgesehen.
Das ist schlichtweg unzutreffend. Viel Stadtviertel sind erst in diesem Jahrhundert entstanden, durch den Krieg sogar komplett neu gebaut worden und man hat sich da schon gegen die Einführung eines ÖPNV entschieden. Die Massenmotorisierung fand nämlich nicht erst in den 90ern statt, sondern schon vor dem zweiten Weltkrieg. Und grade in den alten Bundesländern wurde der ÖPNV massiv zu Gruten des Autos zurückgebaut. Es ist kein Zufall, dass der ÖPNV in den neuen Bundesländern deutlich besser aufgestellt ist. Und selbst das hat man zu Gunsten des Auto deutlich zurückgebaut.
Die massenhafte Individualmotorisierung – also die Ausbreitung des Pkw auch in der Arbeiterschicht – geschah aber nicht vor der „Gründerzeit“, in der z. B. n Hamburg sehr viele Arbeiterwohnviertel entstanden. Vielerorts sieht man noch wirklich alte Backsteinbauten.
Als auf dem Gebiet, wo heute die Speicherstadt steht, das dortige Arbeiterviertel seuchenbedingt komplett abgerissen und als Ersatz ein neues, für die damalige Zeit modernes Viertel im heutigen Barmbek gebaut wurde, hatten die dorthin ziehenden Arbeiter mitnichten alle einen Pkw. Das geschah nämlich, bevor Gottlieb Daimler und Carl Benz das Automobil erfanden. Niemand konnte damals absehen, daß in einigen Jahrzehnten fast jeder Haushalt in diesem Viertel ein motorgetriebenes Fahrzeug haben würde. Und warum sollte man Stellplätze für etwas vorsehen, dessen Erfindung, geschweige denn Ausbreitung noch gar nicht absehbar war?
Ich selbst wohne in einem Haus aus den späten 1930er Jahren – in einem Viertel, wo dieses Gebäude noch eines der jüngeren ist. Viele Häuser sind noch älter. Es gibt einen großen unverputzten Block aus rotem Backstein, es gibt Gründerzeitbauten mit stuckverzierten Fassaden. Aus der Zeit, wo das alles gebaut wurde, wurde auch der Straßengrundriß bis heute unverändert übernommen. Die Straßen sind schmal. Die Straße, in der ich wohne, hat noch Kopfsteinpflaster. Wenn auf einer Seite Autos stehen, kann immer nur ein Fahrzeug zur Zeit die Straße passieren. Es passen keine drei Autos nebeneinander auf die Straße, geschweige denn vier (zwei Fahrspuren plus zwei Parkstreifen). Diese Gegend ist definitiv nicht für den Pkw geplant.
Das ist die Realität, die ich sehe, wenn ich jetzt hier zum Fenster gehe und hinausblicke. Also erzähle mir nicht, daß ich Unfug rede und dieses Viertel nach Einsetzen der Massenmotorisierung (die auch erst mit dem Aufkommen für die Arbeiterklasse bezahlbarer Fahrzeuge wie des VW Käfer in einem mit den USA vergleichbaren Umfang begann) gebaut und von vornherein auf den den Pkw-Verkehr ausgelegt wurde.
Dergleichen Viertel gibt es in Hamburg zuhauf. Und es gibt sie zumindest auch im ehemaligen Westberlin – ich rede also nicht von Lichtenberg oder Marzahn, sondern von Steglitz oder Charlottenburg. Und es gibt sie auch in vielen anderen Großstädten, die zum einen vor dem 2. Weltkrieg schon groß genug waren und zum anderen eben nicht vollständig ausgebombt wurden. Der einzige Hamburger Stadtteil, der im 2. Weltkrieg vollständig zerstört und mit neuem Straßengrundriß neu aufgebaut wurde, ist Hammerbrook – ein ehemaliges Wohngebiet, das als
Büroviertel neu entstand.
Axolotl hat geschrieben: ↑19 Dez 2019 11:23
Le Chiffre Zéro hat geschrieben: ↑19 Dez 2019 09:06
In der tiefsten Provinz, Größenordnung Kleinkleckersdorf, sieht das ganz anders aus. Ich kenne Gegenden, die sind von der nächsten Bushaltestelle – die dann nicht einmal alle Stunde bedient wird – weiter entfernt als ich vom nächsten Fernbahnhof. Teilweise fahren auf dem „platten Land“ überhaupt keine regulären Busse außer drei Schulbussen am Tag (einer morgens hin, einer mittags zurück, einer nachmittags zurück), die auch nur an Schultagen fahren, und ansonsten gibt es Anruf-Sammeltaxis oder gar Bürgerbusse, die man einen halben Tag vorher bestellen muß. Und selbst regulär verkehrende Busse, die weniger als alle Stunde fahren, sind nicht sonderlich flexibel.
Dann wäre es mal an der Zeit zu hinterfragen ,warum das so ist.
Weil es sich nicht lohnt, ein Dorf mit 20 oder 30 Einwohnern alle 5 Minuten mit einem 12-m-Standard-Überlandbus anzufahren. Oder alle 10 Minuten. Nicht einmal alle 20 Minuten.
Wir reden hier von Gegenden, wo auf 100 km² weniger Menschen leben als in Hamburg oder Berlin auf 1 km².
Glaube mir, ich wohne zwar in der Großstadt, aber ich habe die ersten zwei Jahrzehnte meines Lebens in relativer Pampa verbracht – und in unmittelbarer Nähe wirklich totaler Pampa. Und in der Gegend bin ich auch heute noch mehrmals im Jahr. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie es da ist.
Gerade im ländlichen Schleswig-Holstein gibt es Gegenden, da lohnt sich ÖPNV eigentlich gar nicht. Da gibt es nur so kleine Dörflein und Gehöftansammlungen. Wenn man da attraktiven ÖPNV in Größenordnungen einer Millionenmetropole betreiben würde, wo eine Buslinie problemlos ein Einzugsgebiet von 20–30.000 Menschen abdecken kann, dann wird man da alle paar Minuten völlig leere Busse durch die Gegend fahren lassen – weil die Linie in ihrem Einzugsgebiet (mit ähnlich weiten Fußwegen bis zur nächsten Haltestelle wie in Hamburg oder Berlin) mit Glück 200–300 Einwohner hat. Das wäre ein riesiges Defizitgeschäft.
Axolotl hat geschrieben: ↑19 Dez 2019 11:23
Das ist nämlich nicht immer so gewesen.
Ach, wie war es denn früher? Um es mit Verhältnissen aus Berlin und Umland zu beschreiben: War früher der Spreewald so dicht besiedelt wie heute Moabit, daß sich ein eng getakteter ÖPNV lohnte?
Axolotl hat geschrieben: ↑19 Dez 2019 11:23
Es wäre also deutlich zielführender sich mal dafür stark zu machen diesen Umstand zu ändern, als sich damit abzufinden und in den SUV zu steigen.
Und wer soll das wie finanzieren?
In vielen Gegenden besteht der ÖPNV doch nur noch aus Bürgerbussen. Das sind Initiativen, die jeweils nur einen einzigen als Bus bestuhlten Sprinter haben. Die können sich nur dieses eine Fahrzeug leisten. Die finanzieren sich aus den Fahrpreisen und Spenden und daher, daß der einzige Bus über und über mit Werbung lokaler Händler, Dienstleister und Unternehmen beklebt ist. Alle Fahrer arbeiten ehrenamtlich und unentgeltlich in ihrer Freizeit, weil Berufskraftfahrer überhaupt nicht bezahlbar wären. Diesen Bus muß man am Vortag (!) bestellen, damit der nicht fährt, wenn keiner mitfahren will, und damit man rechtzeitig einen der Fahrer zur Hand hat.
Und da willst du allen Ernstes alle fünf oder zehn Minuten einen ausgewachsenen Überlandbus mit einem vollzeitbeschäftigten Berufskraftfahrer herumfahren lassen?
Axolotl hat geschrieben: ↑19 Dez 2019 11:23
Le Chiffre Zéro hat geschrieben: ↑19 Dez 2019 09:06
Taxen kommen auch kaum in Frage, weil alleine die Anfahrt vom nächstgelegenen Taxistand 15, 20 Minuten und mehr dauern kann. Radfahren ist ziemlich riskant, weil es keine Radwege gibt – ich kenne genügend Dörfer, in denen es noch nicht einmal
Bürgersteige gibt, weil da selten jemand innerhalb des Dorfes zu Fuß von einem Grundstück zu einem anderen geht –, die Straßen schmal sind und kein Autofahrer mit Radfahrern rechnet und seine Fahrweise entsprechend anpaßt. Abgesehen davon ist die Menge an Ladung, die man dort mit einem Fahrrad transportieren kann, sehr begrenzt. Wer jetzt mit Lastenfahrrädern kommt, dem sei gesagt, daß von solchen Gegenden der nächste Händler, der Lastenfahrräder auch nur kennt, geschweige denn führt, eine halbe Tagesreise mit dem Pkw entfernt ist; mitunter gibt es in ganzen Landkreisen keinen einzigen. Das führt unterm Strich sogar dazu, daß die meisten Menschen in der Provinz gar nicht wissen, daß es Lastenfahrräder gibt.
Du verwechselst hier grade Ursache und Wirkung. Viel mehr sind die von dir beschrieben schlechten Zustände die Wirkung des Grunde liegenden Problems. Nämlich, dass es allen egal ist. Du kannst mir ja nicht erzähle,d as es in Kleinkleckersdorf ein Autohaus gibt, wenn es schon kein Fahrradgeschäft oder einen Taxistand gibt. Ein Auto hat da trotzdem jeder. Es ist also eher eine Frage des Wollens, nicht des Könnens
Auf dem Land kauft man meistens keine Neuwagen. Autohäuser gibt es, wenn überhaupt, in der nächstgelegenen Stadt mit Gewerbegebiet, in der es auch den nächsten Fahrradhändler (der zu 80% Damen-Citybikes führt, einige davon inzwischen als Pedelecs, aber die ganzen hippen Trends aus den Großstädten nicht mitmacht) und manchmal auch ein Taxiunternehmen gibt.
Willst du wissen, woher die Landbevölkerung ihre Autos hat? Ich kann es dir sagen.
Wenn jemand in diese Gegend zieht, hat er schon mindestens ein Auto, das er mitbringt.
Wenn jemand in der Gegend 18 wird, seinen Führerschein bekommt und sich auch ein Auto zulegen will, dann läßt er sich von Mama oder Papa oder einem bereits mit einem eigenen Pkw ausgestatteten Kumpel dahin fahren, wo er das Auto kaufen will. Und das ist dann immer ein gebrauchter Klein- oder Kompaktwagen, der meistens auch noch von privat verkauft wird, denn Gebrauchtwagenhändler sind in der Pampa noch rarer gesät als Autohäuser. Zur Zulassungsstelle ist es meistens noch ein ganzes Stück weiter.
Wer sein vorhandenes Auto durch ein neues ersetzen will, hat folgende Möglichkeiten:
- Er fährt mit seinem vorhandenen Auto zum Händler, gibt es in Zahlung und fährt dann mit dem neuen Wagen.
- Er fährt mit jemandem anderen zusammen zum Privatverkäufer des neuen Wagens, er selbst übernimmt dann den neuen Wagen, und der Jemandanders fährt seinen vorhandenen Wagen wieder zurück.
Wer sein vorhandenes Auto gerade zerstört hat und sich Ersatz beschaffen will, kennt immer jemanden, der ihn in dessen Wagen dahin mitnehmen kann, wo er sich ein Auto zulegen kann.
Niemand zieht je in diese Wallapampa ohne eigenen Pkw!
Und bevor sich Autos dort ausbreiteten, gingen die Menschen kilometerweit bei Wind und Wetter zu Fuß. Es war nichts Ungewöhnliches, daß Hausfrauen morgens aus einem entlegenen Dorf aufbrachen, um zum nächsten Markt zu gehen – und erst gegen Mittag wieder zurück waren.
Axolotl hat geschrieben: ↑19 Dez 2019 11:23
Le Chiffre Zéro hat geschrieben: ↑19 Dez 2019 09:06
Und so sind die Menschen dann wirklich regelrecht vom Privat-Pkw abhängig und auch daran gewöhnt. Während in Städten wie Hamburg neue Wohnquartiere von vornherein autofrei geplant werden, muß man auf dem Land, wenn Wohnungen gebaut werden, pro Wohnung mindestens zwei Pkw-Stellplätze vorsehen, weil mit sehr großer Wahrscheinlichkeit ein 2-Personen-Haushalt auch zwei Pkw hat. Und es ist auch selbstverständlich, daß man zu seinem 18. Geburtstag seinen Pkw-Führerschein bekommt – und häufig alsbald dann auch einen Pkw, selbst dann, wenn beide Elternteile jeweils schon einen haben.
Womit du ja im Prinzip deinen ganzen oberen abschnitt wieder ad absurdum führst. Denn vorher war ja grade der Mangel an Alternativen die Ursache. Jetzt schreibst du aber, dass die Planer eben schon davon ausgehen, dass sich sowieso niemand für die Alternativen interessieren wird und die deshalb auch nicht einplanen. Also wer ist denn nun eigentlich Schuld? Sind es die Planer, die schlichtweg aus den Erfahrungswerten wissen, dass solche Angebote nicht wahrgenommen werden, oder die Autofahrer selbst, die von sich aus alternative Angebote nicht wahrnehmen und so dafür sorgen dass der Planer diese auch nicht mehr berücksichtigt?
Kleinstadt- und vor allem Landbewohner denken nicht wie junge, hippe, moderne Großstadt-Citizens. Sie leben in der Vergangenheit, wählen alle CDU, weil Papa und Opa schon CDU gewählt haben, sind ewiggestrig, verbohrt, intolerant und unflexibel, lehnen Veränderungen ab und wollen, daß alles so bleibt, wie es schon immer war – außer wenn es für sie selbst unerträglich ist, wie es schon immer war, oder eine Veränderung für sie ganz persönlich große Vorteile mit sich bringt. Und das ist selten der Fall. Glaube mir, ich kenne solche Leute persönlich.
In solchen Gegenden fährt man Auto. Punkt. Jede Distanz, die zu Fuß mehr als fünf Minuten wären, wird mit dem Pkw zurückgelegt, den man ja sowieso schon hat. Das ist einfach, das ist bequem, das ist praktisch, und vor allem: So kennt man das seit „schon immer“. Folglich kann man denen das auch nicht ausreden.
Wenn man da neue Wohnungen baut, dann muß man auch dafür sorgen, daß die Leute, die da wohnen sollen, Stellplätze für ihre Autos haben. Für
alle ihre Autos. Und am besten auch noch für den Besuch, der auch zu 90% mit dem eigenen Pkw kommt.
Was glaubst du, was passiert, wenn man da
überhaupt keine Pkw-Stellplätze vorsieht?
Glaubst du, dann kommen die jungen, hippen, umwelt- und klimabewußten Großstädter, die aus Prinzip aufs Auto verzichten, und ziehen dahin?
Glaubst du, die Einheimischen, die da einziehen wollen, verkaufen alle ihre Autos und nutzen fortan nur noch den ÖPNV – wenn die nächste regulär bediente Bushaltestelle weiter weg ist als der nächste Supermarkt (ich kann dir eine Stadt nennen, auf die genau das zu großen Teilen zutrifft)?
AHAHAHAHAHAHAHAHA! Nein.
Die werden ihre Autos behalten und damit die umliegenden Straßen zuparken. Und die werden sich darüber beschweren, daß sie nicht direkt am Haus parken können, wie sie es von den sonst in dieser Gegend üblichen Einfamilienhäusern gewohnt sind. Das machen die.
Oder sie ziehen überhaupt nicht dahin, wenn sie ihre Autos nicht vernünftig unterbringen können.
← Das da sind keine Klaviertasten. Es sind Synthesizertasten. Doch, da gibt es Unterschiede.
Ich kann es euch erklären. Ich kann es aber nicht für euch verstehen. Das müßt ihr schon selbst tun.
INTJ nach Myers-Briggs