Strange Lady hat geschrieben: ↑23 Jan 2021 12:38
Ich finds grds gut, dass Sprache in Bewegung bleibt & sich verändert und sich uU auch von der englischen Ursprungssemantik wegbewegt. Sehe das total undogmatisch. In der Linguistik gibt es kein richtig oder falsch. Entscheidend ist der Gebrauch: die Begriffe, die sich bei den Menschen durchsetzen und angewandt werden, sind immer die richtigen. Und das ist oft ein langanhaltender gesamtgesellschaftlicher Aushandlungsprozess. Das sieht man sehr gut in der Debatte um diskriminierungskritische/-sensible Sprache.
Das wird meines Erachtens aber in dem Augenblick problematisch, in dem sachlich falsche Begriffe aus dem – mit Verlaub – ahnungslosen Volksmund sachlich korrekte Fachbegriffe verdrängen.
Beispiel: Wer fährt einen Zug? Wer sitzt vorn auf dem Führerstand?
Der eigentliche deutsche Fachbegriff ist „Triebfahrzeugführer“. Den benutzen aber wirklich nur Eisenbahner und harte Nerds. Das heißt, häufig kürzen sie ihn „Tf“ ab, dann weiß auch jeder in ihren Kreisen, was gemeint ist.
Für den Volksmund gibt es eigentlich den Begriff „Lokomotivführer“ oder kurz „Lokführer“. Der stimmt zugegebenermaßen nicht ganz, weil dieser Personenkreis auch auf den Führerständen von Triebwagen zu finden ist, aber ganz falsch ist er nicht.
Tatsächlich aber setzt sich seit geraumer Zeit im Volksmund der Begriff „Zugführer“ durch. Klingt für den Laien richtig, ist aber sachlich falsch. Der Zugführer fährt nämlich den Zug nicht, er hat die oberste Verantwortung über den Zug. Der Zugführer ist so etwas wie ein Kapitän, während der Triebfahrzeugführer bzw. Lokführer so etwas wie ein Steuermann ist. Korrekt ist das nur, wenn ein Zug im Einmannbetrieb gefahren wird, also der Triebfahrzeugführer in Personalunion auch die Funktion des Zugführers mit übernimmt. (Im übrigen heißt es sowieso nicht mehr „Zugführer“, sondern im Fernverkehr „Zugchef“ und im Nahverkehr „Kundenbetreuer im Nahverkehr“.)
Die Situation ist jetzt also: Die ahnungslose breite Masse – inklusive der gesamten Presse, die nicht Eisenbahnfachpresse ist – scheint verstärkt auf „Zugführer“ umzuschwenken und verdrängt und vergißt „Lokführer“ mehr und mehr.
Wenn es nach den ahnungslosen, auf „Zugführer“ bestehenden Laien gehen würde, würde es womöglich wie folgt eskalieren:
- „Zugführer“ wird ganz offiziell für in dieser Bedeutung korrekt erklärt.
- „Lokomotivführer“ wird ganz offiziell für in dieser Bedeutung falsch erklärt. Wer „Lokführer“ sagt, darf (und soll) zu „Zugführer“ korrigiert werden.
- Auf Druck der gewaltigen Überzahl der Laien wird auch „Triebfahrzeugführer“ für falsch erklärt – ungeachtet der Tatsache, daß der Begriff „Triebfahrzeugführer“ praktisch nie in der Kommunikation mit Laien verwendet wird. Aber es könnte ja jederzeit passieren, daß sich ein Laie über Google auf Drehscheibe-Online oder gar ins (praktisch nur von Eisenbahnern frequentierte) Bahnerforum verirrt und dann nicht versteht, was da geschrieben wird. Wohlgemerkt, das sind Foren, wo nicht wenige User ohne jegliche Erklärungen die Betriebsstellenkürzel aus der Ril100 verwenden. Man geht also sowieso – nicht zu Unrecht – davon aus, daß diese Foren von komplett ahnungslosen Laien frequentiert werden und man unter sich ist. Trotzdem wird dann von der Forenleitung her verlangt, daß fortan laienkompatible Sprache zu schreiben ist bis hin zu „Zugführer“ statt „Tf“.
- Auch die Eisenbahnfachpresse vom Eisenbahn-Kurier über das LOK-Magazin bis hin zur Drehscheibe hat per offizieller Sprachregelung (siehe aktuell Gendering) auf „Zugführer“ umzuschwenken, ebenso die gesamte Fachliteratur inklusive Neuauflagen älterer Bücher. Könnte ja immer mal sein, daß ein Laie so etwas in seine Hände bekommt und dann nicht versteht, weil „falsche“ Begriffe darin verwendet werden.
- Sämtliche Regelwerke der Eisenbahn-Betriebsordnung (die StVO für die Eisenbahn) werden von „Triebfahrzeugführer“ auf „Zugführer“ umgeschrieben. Was mit der bisherigen – korrekten – Verwendung des Begriffes „Zugführer“ geschieht, scheint niemanden zu interessieren, zumal der Laie eh nicht weiß, was das ist. Die Wahrscheinlichkeit, daß jemals ein Laie, der von Eisenbahn keinerlei Ahnung hat, eines dieser Schriftstücke in die Hände bekommt, dürfte ziemlich genau bei null liegen, aber „das heißt ja jetzt ‚Zugführer‘“.
Aber dann kann man auch jegliche Form von Fachsprache und Fachjargon verbannen mit der Begründung, daß die breite Masse ja – in ihrer Ahnungslosigkeit, aber trotzdem – andere Ausdrücke verwendet und auch hier immer das Mehrheitsrecht gilt. Und dieser Bann gilt auch in Gesprächen, an denen ausschließlich Leute beteiligt sind, die vom Thema Ahnung haben und mit der jeweiligen Fachsprache bzw. dem jeweiligen Fachjargon vertraut sind.
Übrigens ist das auch der Hauptgrund, warum ich bis heute an der „alten Rechtschreibung“ von 1901 festhalte und die „neue Rechtschreibung“ von 1996 boykottiere: Etymologisch und per Rechtschreibung von 1901 falsche, aber fälschlicherweise häufig verwendete – oder gar an den Haaren herbeigezogene – Schreibweisen wurden nicht nur für korrekt erklärt, sondern bei der Gelegenheit wurden etymologisch korrekte Schreibweisen für falsch erklärt.
Beispiel: „Spaghetti“ ist eigentlich die korrekte italienische Schreibweise. Jetzt ist aber „Spagetti“ korrekt – und „Spaghetti“ wird als falsch erachtet. Wohlgemerkt, „Spagetti“ würde im Italienischen „ẞpadschetti“ ausgesprochen.
Anderes Beispiel: „Delphin“ wird jetzt „Delfin“ geschrieben, und „Delphin“ ist falsch. Das ist deswegen idiotisch, weil vor 1996
niemand „Delfin“ geschrieben hat. Aber man mußte ja unbedingt die Schreibweisen von Fremdwörtern eindeutschen.
Ich ziehe tatsächlich ernsthaft in Erwägung, gewisse Wörter in meiner Schriftsprache „auszudeutschen“. Nicht nur würde ich „Portemonnaie“ (jetzt angeblich korrekt „Portmonee“) statt dessen „
porte-monnaie“ schreiben, sondern „Büro“ durch „
bureau“ ersetzen.
LazyEyeOzzy hat geschrieben: ↑28 Jan 2021 06:51
Das soll jetzt nicht böse klingen aber ich habe den Eindruck dass das auch einfach ein Generations Problem ist.
Das bemerkt man übrigens auch bei der Eisenbahnfachsprache. Es scheint, als hätte der Nachwuchs – bis ca. Anfang, Mitte 20, also die Generation Z – ein Problem damit, die seit vielen Jahrzehnten etablierte Fachsprache zu verwenden, und erfindet lieber seine eigenen, „cooleren“ Ausdrücke, beispielsweise:
- „Panto“ (von „Pantograph“) – eigentlich sagt man eher „Stromabnehmer“, manchmal auch „Pantograph“
- „Makro“ (von „Makrofon“) – eigentlich sagt man „Signalhorn“
- „Mischer“ oder gar „Mixer“ für einen gemischten Güterzug, den diese Generation kaum mehr kennengelernt hat und schon gar nicht als Normalfall
Man könnte jetzt annehmen, daß sich das alsbald durchsetzen würde. Leute unter 25 glauben ja sowieso – so manches Mal nicht ganz zu Unrecht –, daß sie im Internet die Mehrheit der Nutzer stellen. Aber zum einen tun sie in den Kreisen der Eisenbahnenthusiasten genau das nicht. Und zum anderen werden sie in diesen Kreisen ohnehin nicht ernstgenommen, weil sie sich auch sonst an keine Regeln halten – seien es betriebliche Regeln, indem sie ohne Erlaubnis in Gleisbereichen herumlaufen, seien es Anstandsregeln, weil sie gegenüber Dienstpersonal ausfallend werden, weil die per Umlaufplan erwartete Werbelok nicht gekommen ist, oder seien es die seit Bellingrodt, Wagner & Co. etablierten fotografischen Regeln, die sie mit ihren Smartphone-Knipsereien unbelehrbarerweise brechen und sich dann aufregen, daß ihre Bilder gegenüber handwerklich besser ausgeführten DSLR-Fotos erfahrenerer Fotografen schlechter bewertet oder gar kritisiert werden.
Unter nicht mehr ganz so jungen Eisenbahnenthusiasten ist übrigens tatsächlich der Fachjargon ziemlich einheitlich und gleichbleibend. Es kommen höchstens neue Spitznamen für neue Triebfahrzeuge hinzu, und die einzige wiederkehrende Debatte ist, ob man in Foren nun die Ril100 anwenden soll („ist kürzer und gerade bei Sichtungen schneller zu schreiben“, „die wichtigsten großen Bahnhöfe und die paar Betriebsstellen in seiner eigenen Umgebung sollte man sich schon merken können“) oder nicht („versteht doch keiner“, „damit wollen sich nur diese überheblichen Betriebsbahner-Schnösel über uns Amateure erheben und/oder uns aus dem Forum verjagen, damit die unter sich sind“).¹
Ich habe auch den Eindruck, daß der Eisenbahnfachjargon vergleichsweise widerstandsfähig ist gegenüber Versuchen wenig Bewanderter, ihn umzuwerfen. Das erlebt man ja nicht selten, etwa auch hier in AB-Kreisen, daß jemand ankommt, der ziemlich oder komplett neu ist in der Thematik und sagt: „Hey, ich verstehe euren Fachjargon nicht! Schmeißt ihn doch weg und ersetzt ihn komplett durch etwas, was ich mir gerade ausgedacht habe, damit ich alles besser verstehe!“ Im AB-Jargon gab es beispielsweise nicht wenige Versuche, „OdB“ zu eliminieren, nicht selten durch Leute, die vorher noch nie den Begriff „Objekt der Begierde“ gehört hatten und glaubten, wir hätten den erfunden und auch das erst kürzlich. Ich meine, mich auch an Versuche erinnern zu können, die Bezeichnungen der AB-Stufen zu ändern, weil jemand Neues die etablierten Kürzeln nicht verstand.
Nun ist ein Jargon aber etwas, was zum einen historisch wächst und zum anderen – vor allem sogar – lange etablierte Begriffe selten bis nie abschafft oder ersetzt. Den AB-Jargon gibt es schon seit mindestens dem Vorvorjahrzehnt, und unzählige ABs haben ihn so verwendet. Allenfalls kamen neue Begriffe hinzu, z. B. „seriös“ oder „Mabse“. Beim Eisenbahnfachjargon ist es sogar noch extremer: Zum einen ist er sehr viel älter, ihn gab es zu erheblichen Teilen schon mindestens vor dem 2. Weltkrieg. Zum anderen stammt er zu großen Teilen eben nicht von Enthusiasten, also Amateuren, sondern von Betriebsbahnern, also Profis. Und Begriffe, die seit über 80 Jahren von Fachleuten verwendet werden, wirft nicht einfach so ein Laie um, der neu in der Thematik ist und diese Begriffe noch nicht kennt.
¹Übrigens gibt es da immer wieder Reibereien, wenn jemand in entsprechenden Foren mit Kfz-Kennzeichen ankommt (z. B. „HH“ schreibt und damit das Autokennzeichen der Hansestadt Hamburg meint, was aber als Hannover Hbf aufgefaßt wird). Mit den ICAO-Flughafenkürzeln gibt es weitaus seltener Kollisionen, aber kurioserweise wird da mitunter davon ausgegangen, daß die sowieso jeder kennt – in einem Eisenbahnforum.
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Ich kann es euch erklären. Ich kann es aber nicht für euch verstehen. Das müßt ihr schon selbst tun.
INTJ nach Myers-Briggs