James Neill, The Origins and Role of Same-Sex Relations in Human Societies, Jefferson, NC/London 2009.
Das eigentliche Thema des Buches ist die Frage, warum homosexuelle Aktivitäten für menschliche Gesellschaften so wichtig sind, und wie es zu deren seltsamen Unterdrückung im Westen und der von ihm beeinflussten Welt kam. Im Zuge des Buches werden aber auch einige ganz grundsätzliche Sachen gesagt, die besonders für AB – egal, welcher sexuellen Orientierung – interessant sind.
Aus evolutionärer Sicht und für die Gesundheit der Gesellschaft ist es wichtig, dass nur erwachsene, gut im Leben stehende Menschen Kinder bekommen, die sich dann auch gut darum kümmern können. Wenn zu junge Menschen Kinder bekommen, geht das schief, weil sie emotional und psychisch damit nicht klar kommen und ihre Kinder gar nicht richtig ernähren und erziehen können, und das würde allen schaden. Das kommt sicherlich jedem bekannt vor, der mal RTL II gesehen hat…

Weil gute Verhütungsmittel eine relativ neue Erfindung sind, musste man vor deren breiten Durchsetzung also aufpassen, dass junge Menschen keinen Sex haben, bei dem Kinder entstehen können. Der Westen hat sich irgendwann dafür entschieden, Enthaltsamkeit zu predigend und die jungen Erwachsenen voneinander fern zu halten, damit es nicht dazu kommt. Das Ergebnis war dann die christliche Sexualmoral, in der man ja nicht zu früh mit Sex anfangen darf, und dann am Besten nur, wenn man sicher verheiratet ist.
Neill beschreibt, wie in praktisch allen "Naturvölkern", "traditionellen" Gesellschaften, frühen Zivilisationen, und im Prinzip allen Gesellschaften außerhalb des Einflussbereichs des westlichen Christentums auf der ganzen Welt eine andere Lösung gefunden wurde: gleichgeschlechtliche Partnerschaften. In den meisten dieser Gesellschaften haben alle Menschen ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit dem eigenen Geschlecht, und das bleibt die gesamte Pubertät über so. Erst, wenn die Menschen wirklich erwachsen sind, haben sie ihre ersten heterosexuellen Erfahrungen, und damit es auch da nicht übertrieben wird, bleiben gleichgeschlechtliche Beziehungen auch bis zum Tod die wichtigste, überwiegende Konstellation. Dabei ist es so, dass die ersten Beziehungen während der Pubertät ganz stark gefördert und institutionalisiert werden: wirklich jeder bekommt einen Partner ab, und ist auch für den Rest seines Lebens versorgt, und die Erfahrungen, die man in dieser enorm wichtigen Zeit sammelt, finden im sicheren Rahmen der eigenen Gruppe statt. Wenn man dann zum ersten Mal mit dem anderen Geschlecht zusammen trifft, ist man schon wirklich erfahren und psychologisch voll entwickelt, und selbst, wenn man keinen Partner des anderen Geschlechts abbekommt (Männer- oder Frauenüberschuss), hat man immer noch die Partner des eigenen Geschlechts, damit niemand allein sein muss.
Was ich jetzt aus AB-Sicht bedenkenswert finde: Das im Westen althergebrachte Modell setzt auf lebenslang monogame und ausschließlich heterosexuelle Beziehungen, die erst nach Ende der Pubertät geschlossen werden. Die sexuelle Revolution und die Lockerungen der Jahrzehnte danach haben daran nur bedingt etwas geändert. Wer aber durch das starre Raster durchrutscht, hat ein Problem, und wird eben zum AB. Außerhalb unseres Kulturkreises, in den älteren Zivilisationen, wäre soetwas vollkommen unmöglich. Der grundlegende Unterschied ist, dass im christlich-westlichen System Einsamkeit (zumindest in jungem Alter) sogar gefördert wird und die Sexualität bewusst unterdrückt wird, ab einem bestimmten Alter aber genau das plötzlich zum Problem wird. In den anderen Gesellschaften weiß man, dass das genau der falsche Weg ist, und obwohl man dasselbe Problem (zu frühe Schwangerschaften) hatte, hat man vor allen Sorge getragen, dass niemand allein ist. Das war immer das Wichtigste: das jeder immer einen Partner hat, sein ganzes Leben lang. Das finde ich beeindruckend.