Essis einsame Gedanken

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Der Essi
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Essis Geschichten, Teil 1: Die Lebendfrau

Beitrag von Der Essi »

Dies ist die erste meiner Geschichten (und zugleich die jüngste). Ich habe – wie viele von euch auch – noch eine ganze Reihe weiterer erlebt, die ich euch gern nach und nach erzähle, wenn Interesse daran besteht. Wer erst mal ein bisschen mehr über mich wissen möchte und darüber, wie diese Erfahrung einzuordnen ist, schaue bitte hier: http://abtreff.de/viewtopic.php?f=9&t=16689. Oder frage nach.

Diese Geschichte hat sich erst vor ein paar Monaten abgespielt. Im Mittelpunkt steht die an sich harmlose Frage: Wenn ich sie frage, ob wir uns nach der Arbeit in einer Bar treffen wollen, und sie sagt sofort Ja, haben wir dann ein Date?


Ich schreibe für mein Leben gern. Um mich mit anderen jungen Leuten auszutauschen, habe ich eine kleine Schreibgruppe gegründet. Außerdem gehe ich regelmäßig zu einem Autorenforum in meinem Stadtteil. Selten treffe ich dort Leute in meinem Alter und oft langweilen mich die Texte, die vorgetragen werden. Doch mit ihr ändert sich das schlagartig.

Dass sie mir auffällt, als sie das erste Mal da ist, zwischen den bekannten Leutchen, ist kein Wunder. Auch nicht, dass ich mich nicht traue, sie gleich anzusprechen. Erst beim zweiten Mal, als sie selbst einen Text vorträgt, da weiß ich, worüber ich mit ihr sprechen kann. Es gelingt mir dann auch, mich in einer der Pausen mit ihr zu unterhalten. Dabei stellt sich heraus, dass sie wie ich gerade in einem Verlag arbeitet. Den Blickkontakt suchend, spreche ich in einigen Andeutungen von meinem Praktikum. Später kommt sie wieder auf mich zu: „Das hat mich jetzt neugierig gemacht.“ Es wird noch ein netter Abend gemeinsam mit den anderen im Café, wo ich ihr auch von meiner Schreibgruppe erzähle. Sie zeigt sofort Interesse daran. Am nächsten Tag habe ich eine Mail von ihr im Postfach, in der sie mir ungefragt gleich noch ihre Handynummer mitteilt.

Eine Woche später treffen wir uns wieder beim Autorenforum und es wird wieder ein unterhaltsamer Abend. Ende der Woche kommt sie zum ersten Schreibgruppentreffen. Da wir einen ähnlichen Rückweg haben, fahren wir ein ganzes Stück gemeinsam. Ich genieße ihre Nähe und umarme sie zum Abschied. Die Woche drauf bin ich nicht in der Stadt, wünsche ihr aber nach einigem Zögern per SMS eine gute Woche. Eigentlich rechne ich nicht mit einer Antwort. Doch sie schreibt u.a. zurück: „ich hoffe, da scheint auch die Sonne, wie hier“… Plötzlich weiß ich, dass ich verliebt bin, und obwohl ich überhaupt keine Lust mehr auf Träumereien habe, springen sofort die Vorstellungen in meinem Kopf an. Ist halt ein listiger Sittich, dieser Kopf, fliegt aus, wohin er will.

In der folgenden Woche werden meine Erwartungen noch übertroffen. Inzwischen unterhalten wir uns über unsere Familien, über Kindheitserinnerungen und diverse Peinlichkeiten, die ich bisher nicht mal meinen besten Freunden erzählt habe. Doch es ergibt sich einfach eins aus dem andern. Schließlich frage ich sie, ob wir uns nicht mal nach der Arbeit treffen wollen. Ich habe auch schon eine genaue Idee. Sie sagt ohne zu zögern Ja. Und wann? Diese Woche sehe es schlecht aus, aber nächste Woche, vor dem zweiten Schreibgruppentreffen, da könnten wir ja dann „zusammen“ hinfahren.

Ich erzähle meinen Eltern von ihr (was ich sonst niemals tue). Die Schmetterlinge in meinem Bauch sind längst zu Helikoptern geworden. Ich halte es nicht aus, sie erst in einer Woche wiederzusehen und frage, ob wir was am Wochenende machen können. Sie meint, sie sei mit ihrer Freundin unterwegs und würde sich freuen, wenn ich dazukäme. Sie schlägt ein Museum vor. Es klappt nicht ganz so wie geplant, aber schließlich sind wir zu dritt im Museum und wundern hier und lachen dort, und irgendwann sind die Ausstellungsstücke nur noch Nebensachen. Sonst kenne ich es, dass ich bei Dreien immer der Dritte bin, doch jetzt muss ich mich glatt bemühen, ihre Freundin nicht auszuschließen. Und dann gibt es diesen einen Moment, als sie mich ganz wunderbar anlächelt, ein Moment nur zwischen uns beiden, den ich mir am liebsten eingerahmt hätte (das habe ich ihr, als es längst zu spät war, dann auch so gesagt). Spätestens jetzt bin ich mir sicher, in ihr eine Lebendfrau gefunden zu haben (‚Lebendfrau‘ als Gegenteil von ‚Traumfrau‘, also eine, von der ich nicht bloß träume, sondern die mich zum Leben bringt).

Der Tag kommt, an dem wir uns in einer Bar treffen, „zum ersten Mal zu zweit allein“ (ihre Worte, hinterher). Ich weiß, dass ich heute Abend die Karten auf den Tisch legen will. Kann sein, dass ich deswegen etwas angespannter bin als vorher. Aber es entwickelt sich trotzdem ein interessantes Gespräch und ratzfatz ist die Zeit um und wir brechen auf. Draußen auf dem Platz würde der richtige Moment sein, dachte ich mir, und tatsächlich greift meine Hand nach ihrem Arm, ich hake mich bei ihr unter und frage sie, ob sie auch das Gefühl habe, dass es was werden könnte mit uns.

Doch schon während ich das sage, spüre ich ihre Abwehr. Ich höre ein bedauerndes Nein und eine Entschuldigung für den Fall, dass sie diesen Eindruck erweckt haben sollte. Und es liege nicht an mir, sondern an ihr, denn sie habe gerade eine schwierige Trennung hinter sich und sei gar nicht frei für etwas Neues. Das hatte ich aber ganz anders wahrgenommen…

Den Rest kürze ich ab. Wir sehen uns einen Monat lang nicht mehr, dann gehen einige Mails hin und her. Einmal schreibt sie mir, ich hätte mich an jenem Abend „ganz plötzlich verändert“ und sei „wie eine völlig andere Person“ gewesen. Ich hatte aber das Gefühl, jedes Mal derselbe zu sein, nämlich endlich einmal ganz ich selbst, versichere ich. Begründet mit eigener Erfahrung hat sie dann schließlich den Kontakt zu mir abgebrochen.

Eine Freundin, der ich auf einer nebligen Autofahrt von der Geschichte erzählt habe, meinte dazu u.a.: „Bestimmt hätten 90 Prozent das Gleiche gedacht wie du.“ Was meint ihr?

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Der Essi
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Essis Geschichten, Teil 2: Nie wieder werd ich weinen um sie

Beitrag von Der Essi »

Hinweis: Teil 1 ist zum Verständnis nicht zwingend erforderlich.

Drei Mal habe ich an einer Erstsemesterfahrt teilgenommen, ein Mal als Ersti, zwei Mal als Organisator und Begleiter. Drei Mal habe ich es fertiggebracht, mich bei dieser Fahrt zu verlieben. Hier nun die früheste der drei Geschichten. Die erfuhr später eine ungeahnte Fortsetzung, und deshalb könnte sie auch heißen: Die Frau, in die ich mich zwei Mal verliebte. Es darf durchaus gelacht werden!


Wir sind also auf Erstifahrt, der idealen Art neue Leute aus seinem Studienfach kennenzulernen. Ich als Ersti mittendrin. Es ist Anfang November. Mir geht’s ziemlich mies, gerade habe ich meine erste Chance, ein Mädchen zu gewinnen, völlig vergeigt (andere Geschichte). Auf der Zugfahrt begegne ich einer Mitstudentin, die ich bereits aus einem meiner Kurse kenne (ihr merkt schon, FÜ-Fach). Sie hat ihre Freundin mitgebracht. Die scheint sich plötzlich sehr für mich zu interessieren, ist neugieriger als alle anderen. Und ihr Lächeln ist einfach bezaubernd.

Die Schlüsselszene findet in einer Fußgängerzone statt. Ich bin auf der Suche nach einem Geldautomaten. Während ich Geld hole, geht die Gruppe weiter. Ich beeile mich. Als ich wieder auf die Straße trete, steht da genau eine Person, die auf mich gewartet hat (und nicht etwa, weil sie mein Geld will…). Aus einiger Entfernung schauen ihre neuen Freundinnen etwas verwundert auf uns zurück. Das ist ihr ganz offensichtlich egal. „Wollte dich doch nicht alleine zurücklassen.“ Nie wieder werde ich erleben, dass eine Frau, die mich noch gar nicht kennt, so etwas tut.

Mit der Gruppe haben wir dann noch viel Spaß beim Fotos-Schießen im gelben Laub. Vielleicht war das der Auslöser, weshalb ich mir kurze Zeit später eine Digitalkamera gekauft hab. Mit der zieh ich durch die Parks und Gärten meiner Stadt und erobere mir Motiv für Motiv ein Stück meiner Heimat zurück. Die schönsten Bilder stelle ich online. Aus heiterem Himmel schreibt sie mir, die Fotos würden ihr sehr gefallen und ob ich nicht Lust hätte, mit ihr mal zu den Orten in der Stadt zu gehen. Mein Herz macht einen Hüpfer, was kann das bedeuten?

In den nächsten Tagen lege ich es darauf an, ihr so oft wie möglich auf dem Campus zu begegnen. Ein Mal fahre ich, einfach weil ich es will, mit ihr in einer vollen Bahn den langen Weg, den sie jeden Uni-Tag zwei Mal fahren muss. Am Ende sagt sie: „Da fährt gleich der Zug, mit dem du zurückkommst.“ (Heute kann ich über meine Naivität herzlich lachen.) Ich lasse nicht locker, mache ihr ein sehr eindeutiges Geburtstagsgeschenk – für das sie sich nie bedanken wird. Eine weitere Nachricht beantwortet sie mit der Aussage, sie habe „schon öfter schlechte Erfahrungen gemacht“, sie möge mich zwar, aber eben „rein platonisch“. (Im Übrigen wirkte ihr Stil so offiziell, als sei ich ihr Vorgesetzter.) Das war’s also schon wieder. Aus und vorbei, noch ehe es begann. Natürlich sehen wir uns noch in dem ein oder anderen Kurs und eine Zeitlang gehöre ich zu ihrem Freundeskreis. Irgendwann korrigiere ich eine Hausarbeit für sie (bin einfach viel zu gut für diese Welt). Den Stadtrundgang hat sie aus einem eher fadenscheinigen Grund abgesagt: „Wir holen das nach.“ Nie wieder ist seitdem die Rede davon gewesen.

Die Jahre vergingen, ich wechselte an eine andere Uni, plante ein Auslandssemester. Eines Tages schreibt sie mir, sie würde gern ein paar Fragen stellen zu meinem Studiengang, weil sie sich auch dafür bewerben wolle. Ich gebe natürlich gern Auskunft. Monate später, als sie angenommen wird und ich einsam im Ausland bin, meldet sie sich wieder mit neuen Fragen. Froh darüber, mit jemandem aus der Heimat zu kommunizieren, helf ich erneut (ich Trottel). Meine Fragen an sie bleiben unbeantwortet. Als ich wieder da bin, will sie mich wiedersehen. Ich merke, dass ich plötzlich was zu erzählen habe und sie mit Spannung zuhört. Ich denke daran, dass sie mich vielleicht noch nie so erlebt hat. Ob sie nach all der Zeit ihre Meinung ändert?

Ich meine jedoch, dass die Initiative dazu jetzt von ihr ausgehen müsste und halte mich zurück. Wir sehen uns regelmäßig an der Uni. Auf meine wenigen Versuche, sie auch mal außerhalb zu treffen, geht sie nicht ein. Ich müsste eigentlich längst genug von dieser Frau haben, doch sie lächelt noch immer dieses bezaubernde Lächeln, von dem mir jedes Mal ganz warm wird in der Brust… Und ich bemerke null Anzeichen dafür, dass sie inzwischen einen andern hätte. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

So geht das noch ein ganzes Jahr. Irgendwann verursacht das Lächeln keine Wärme mehr, nur noch Schmerz. Ich habe einen Hass auf ihre Uni-Freundin, hinter der sie sich verschanzt. Schließlich meint sie, sie mache ein Auslandspraktikum und werde mich zu ihrer Abschiedsfeier einladen. Was nicht geschieht. Damit hake ich sie endgültig ab. Und wenn sie sich je wieder bei mir melden sollte, werde ich ihr ohne Vorwürfe, aber bestimmt mitteilen, dass ich sie nicht wiedersehen will. Denn nie wieder werd ich weinen um sie!
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Essis Geschichten, Teil 3: Schon wieder im Herbst

Beitrag von Der Essi »

Hinweis: Es empfiehlt sich, zuvor die Einleitung zu Teil 2 zu lesen.

Das ist die kürzeste Geschichte von allen, die es zu erzählen gibt. Aber manchmal sind gerade die kürzesten Geschichten diejenigen, die am meisten wehtun. Durch diese Erfahrung habe ich etwas gelernt über die Frage: Welchen Wert haben meine Gefühle?


Vor der dritten Erstsemesterfahrt hatte ich leichte Panik. Weshalb sollte ich, was mich zwei Mal unglücklich gemacht hatte, noch ein drittes Mal wagen? Ich würde diesmal nur Begleitperson sein, ich hätte ohne Probleme absagen können, doch wer verzichtet freiwillig auf ein lustiges Herbstwochenende mit Freunden und neuen Mitstudenten? Mein Wahlspruch zu dieser Zeit: Du musst, was dich runterzieht, in etwas Positives verwandeln. Also auf!

Schon die Zugfahrt wird sehr lustig und entspannt. Unter den Neuen sind viele angenehme Leute. Nur nehme ich eine gewisse Distanz zu uns Begleitern wahr, die mir in den Jahren zuvor nicht aufgefallen ist. Liegt das schon am Altersunterschied? Na ja, wir kommen trotzdem gut miteinander ins Gespräch. Eine ist dabei, die zurückhaltender ist als die andern und lieber einzeln mit den Leuten spricht. Etwas an ihr gefällt mir und macht mich neugierig darauf, mich mit ihr zu unterhalten. Dazu ergibt sich später auch die Gelegenheit.

Ich erinnere mich kaum noch, über was wir gesprochen haben. Jedenfalls ging es recht früh über die üblichen Floskeln hinaus, sogar ins Thema der Religion. Dabei wurde sie mir schnell sympathisch. Sie hatte einen dieser Taizé-Anhänger um den Hals, eine Kreuztaube. Sehr gut erinnere ich mich an den Spendentrichter, der in einer Kirche stand, und an die zwei Cent-Münzen, die wir gleichzeitig von den beiden Seiten des Trichters hinabkreiseln ließen. Sie kamen tatsächlich im selben Moment unten an. Dazu zwei lachende Gesichter. Kann sein, dass ich damals noch irgendwie an so etwas wie eine höhere Macht glaubte.

Auf der Rückfahrt sitze ich ganz schön verlegen neben ihr. Kurz vor Schluss bringe ich es endlich fertig, ihr zu sagen, dass ich sie gern wiedersehen möchte. Das wird mit einem „Na, wir sehen uns bestimmt bald“ quittiert. Schon am nächsten Tag treffe ich sie wieder, nicht unbeabsichtigt. Wir gehen mit ihrer Kommilitonin in die Caféteria. Auch auf mein erneutes Angebot sich zu verabreden geht sie nicht ein. Trotzdem fängt es die nächsten Tage an, in mir zu kribbeln: Vielleicht habe ich ja diesmal eine Chance? Eine Erkältung wirft mich zunächst aus der Bahn. Ich schicke ihr im Netz eine Freundschaftseinladung, auf die sie tagelang nicht reagiert. Schon nagen Selbstzweifel an mir. In meinem Tagebuch steht: „Angst, immer wieder das Gleiche durchleiden zu müssen.“ Ich mache mir Gedanken über Gedanken über meine Gefühle, falsche Erwartungen und die Fehler Werthers, der seine Liebessehnsüchte auf die für ihn unerreichbare Lotte überträgt.

Schließlich schreibe ich eine E-Mail. Ich versuche einen einfühlsamen Ton zu treffen und gleichzeitig meine Hoffnung zum Ausdruck zu bringen. Drei Tage später die Antwort: „ich fand dich ja auch nett … habe jetzt aber nicht die zeit, mich mit allen netten leuten von der fahrt zu treffen. man sieht sich ja … bis irgendwann“. Das war für mich ein Schlag ins Gesicht. Ich hatte mich in meinem Gefühl vollkommen getäuscht. Einer meiner Grundpfeiler – das Vertrauen darauf, dass Gefühle einen Wert für sich besitzen und so etwas wie Wahrheit bezeugen – wurde völlig erschüttert. In mein Tagebuch schrieb ich: „Jetzt ist alles Angst.“ Ich hatte erlebt, was viele andere bereits als Teenager erleben: eine Desillusionierung bis ins Mark. Wiedergesehen habe ich sie übrigens nie – zum Glück.
Zuletzt geändert von Kolinatan am 21 Mai 2023 13:16, insgesamt 1-mal geändert.
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Essis Geschichten, Teil 4: Eine Sommerliebe, die keine war

Beitrag von Der Essi »

Vorweg: Auf diese Geschichte bin ich nicht stolz. Es fällt mir schwer, sie zu erzählen, ohne mir Selbstvorwürfe zu machen. Ich weiß auch nicht recht, was aus dieser Erfahrung zu lernen ist, außer dass es wahrscheinlich ein einziger Fehler war.


Es war in meinem ersten Studienjahr, im Sommer. Wir kannten uns schon durch den gemeinsamen Freundeskreis, der zu Beginn des Studiums entstanden war. Sie war ein echter Sonnenschein, naturblond, lebensfroh. Auf den Gedanken, dass sie mir bestimmt gut tun würde, verfiel ich im Frühling. Doch ich wollte es langsam angehen, nachdem ich meine Chancen bei den ersten beiden so schnell versiebt hatte (siehe Teil 2). Leider brachte ich es überhaupt nicht fertig, sie in der Gruppe, in der wir uns anfangs noch recht häufig trafen, durch Reden auf mich aufmerksam zu machen. Als wir dann doch mal ins Gespräch kamen, meinte sie einmal, ich müsse meine Gefühle mehr äußern. Das fand ich schwer, denn am liebsten hätte ich ihre Hand gegriffen und wäre mit ihr davongelaufen…

So gingen die Monate ins Land. Zur Gruppe gehörte ich immer weniger dazu. Wir sahen uns kaum noch. Bezeichnend der Tag, an dem ich nicht richtig über ein Treffen informiert war, deshalb viel zu spät kam und vor lauter Scham erst recht kaum was rausbrachte. Am Ende durfte ich nicht mal im Auto mit zurückfahren, weil der schmierige Typ, den ich sowieso nicht mochte, mich unter einem Vorwand loswerden wollte, um die zwei Mädels allein nach Haus zu fahren. Es gab die üblichen Umarmungen, ein „Wir sehn uns!“ (oder auch nicht), und ich musste wieder allein in den Zug steigen. Über dem Bahnhof entlud sich just in dem Moment ein Gewitter (nein, das hab ich mir nicht ausgedacht!)…

Kurze Zeit später war sie vergeben. Das war erst mal ein Schock für mich, aber dann passierte etwas Eigentümliches: Ich fühlte mich mit einem Mal glücklich, befreit von einer Last. Es gab nichts zu ändern, keine Sehnsucht mehr, keine seelische Blockade. Ich konnte mich wieder völlig neu dem Leben zuwenden. (Seither frage ich mich öfters, ob ich es in meinem Leben nicht leichter hätte, wenn ich mich niemals verlieben würde.)

Nach einem Monat war es vorbei mit ihrer Affäre. Schon floss wieder Öl auf meine Flamme. Wenn sie nun gelernt hatte, dass das schnelle Glück auch schnell verging, Liebe nicht einfach da war, sondern werden musste? (Meine damalige Philosophie war wohl ein einziger Selbstbetrug.) In der Folge kam es zu einem längeren Mailwechsel zwischen uns beiden, dem „persönlichsten“, den wir jemals haben sollten. Ich versuchte, ihr über den Schmerz hinwegzuhelfen, etwas Mut zu machen, den sensiblen Versteher zu spielen. Einer meiner Sätze an sie: Es kommt darauf an, mit der Vergangenheit offen für die Zukunft umzugehen. Natürlich hat das nichts genutzt.

Als der Sommer sich dem Ende neigte, kippte meine Geduld um in Verzweiflung. Monatelang hatte ich sie nicht gesehen, hatte keinen Weg zu ihr gefunden und auch keinerlei Entgegenkommen verspürt. Doch an meinem Wunschtraum hielt ich hartnäckig fest. Ich machte ihr einen Vorschlag für einen gemeinsamen Ausflug (peinlich, peinlich), auf den sie zunächst gar nicht, dann nur ausweichend reagierte. Ich machte ihr ungerechtfertigte Vorwürfe, weil sie meine (wirklich blöd formulierten) Offerten nicht offen beantwortete. Ein klares Nein hätte mir genügt… Eine dumme Idee später war es dann endgültig vorbei. Der Rest war Schweigen.

Ein paar Mal müssen wir uns noch begegnet sein, aber bald ging ich ihr, wann immer es nötig war, aus dem Weg. Eine Erinnerung gibt es noch: Durch einen Zufall stieg sie mit ihren Freundinnen einmal in denselben Waggon, in dem ich saß. Ohne mich bemerkbar zu machen, hörte ich, wie sie über die Ereignisse der vergangenen Woche herzogen. Und dann auch über mich. Sie selbst war dabei die Lauteste.
Zuletzt geändert von Kolinatan am 21 Mai 2023 13:25, insgesamt 1-mal geändert.
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Essis Geschichten, Teil 5: Die erste Mitstudentin

Beitrag von Der Essi »

Zur Abwechslung erzähle ich nun eine schöne Geschichte. Sie fängt zwar nicht so gut an und hat auch kein „Happy End“ wie im Liebesfilm (wär ja auch zu langweilig), beweist aber, wie aus einer Verletzung eine wunderbare Freundschaft werden kann.


Die ersten Menschen, denen man an einem neuen Ort begegnet, sind meist etwas Besonderes. Meine beste Freundin habe ich an einem der ersten Tage im Wohnheim kennengelernt, sie machte sich mit Geburtstagskuchen beliebt. Meine „zweitbeste“ Freundin (schrecklich ungerecht, so wertend zu sein) war die erste Mitstudentin, die ich traf, in der Einführungswoche für Erstsemester. Ich bin ihr hinterhergelaufen, saß neben ihr in einem Vorlesungsraum, traute mich aber nicht einmal, sie nach ihrem Namen zu fragen. (Zum Glück gab’s eine E-Mail-Liste, in die wir uns eintrugen, damit war das geklärt.) Als wir dann doch mal zu reden anfingen, stellten wir fest, dass wir wahrscheinlich gar nicht so verschieden waren. Stellt euch vor: Zum allerersten Mal verabredete ich mich mit einer Frau!

Es war Ende Oktober, an einem freien Tag. Wir trafen uns auf einer Flussinsel. Ich brachte eine große Hoffnung mit, auf Papier in Versform gebannt in meiner Tasche, im Zug geschrieben. Wir wollten jeder vom anderen ein paar Texte lesen und sie hatte sich ein paar interessante Notizen zu meiner Geschichte gemacht, die ich ihr vorher gegeben hatte. Schließlich drückte ich ihr jenes Gedicht in die Hand, schaute ihr mit einer eigentümlichen Mischung aus hoffnungsvoller Erwartung, Zweifel und Aufregung beim Lesen der Zeilen zu, und alles, was sie darauf erwiderte, war ein niedliches Lachen, das wahrlich vieles bedeuten konnte.

Danach war Funkstille. Sie hielt mich auf Abstand. Und ich wurde wütend, halb wahnsinnig machte ich meiner Wut im Schreiben weiterer Gedichte Luft. Als wir uns tagelang schweigend mehr oder weniger aus dem Weg gegangen waren, schrieb ich ihr eine Nachricht, woran das denn liege. Zurück kam eine zerpflückte Buchstabenwiese, deren Aussage war, dass sie unter seelischen Problemen litt und Leute brauchte, die sie aufmunterten. Mit mir ginge das aber nicht, da man nicht ungezwungen mit mir reden könne. Und das stimmte.

Doch ich wollte und konnte das nicht auf mir sitzen lassen. Zu oft sahen wir uns in den Kursen, auf dem Campus, in der Mensa. Ich blieb in ihrer Nähe, versuchte mehr und mehr ihr Vertrauen zu gewinnen, mich mit ihr auszutauschen. Irgendwann hatte ich es, über etliche Tiefen hinweg, tatsächlich geschafft, sie mir zu einer beinahe unersetzlichen Freundin zu machen, die, wie sich schon bald zeigte, auch in besonderer Weise an mir hing. Plötzlich schütteten wir uns gegenseitig unser Herz aus. Sie lebte zwar nach wie vor ihr eigenes, mir fremdes Leben, aber mit jedem gemeinsamen Essen, jeder WG-Feier, jeder ehrlichen Aussprache wurde ich mehr und mehr ein Teil davon. Und sie erst recht von meinem Leben.

Sie hatte in dieser Zeit wechselnde Beziehungen, von denen keine länger dauerte als ein paar Monate. Sie ging damit recht souverän um, normalerweise war sie es, die die Sache beendete. Im Jahr darauf kam sie mit einem zusammen, den wir beide durch unsere ehrenamtliche Tätigkeit kennengelernt hatten. Sie war überglücklich, und ich freute mich tatsächlich für sie, denn ich selbst war bis dahin nie zufriedener mit unserer Freundschaft gewesen. Während ich die Last zu tragen hatte, von meiner „Traumfrau“ mehrere Male behutsam zurückgewiesen zu werden, waren die zwei für mich ein riesiger Rückhalt. Natürlich gab es auch Enttäuschungen, Dinge, die hinter meinem Rücken geschahen, Aktivitäten, von denen ich ausgeschlossen wurde. Aber Streitereien gab es deshalb nicht. Als ich Probleme mit einem gemeinsamen Freund hatte, der mir plötzlich ungeheuerliche Dinge vorwarf, zögerte sie keinen Moment in den Zug zu steigen und zu mir zu kommen, um mir ehrlichen Rat und Beistand zu leisten. Das war nur eine von vielen kleinen Schlüsselerfahrungen, die dazu führten, dass sich zwischen uns ein unzerbrechliches Vertrauen aufbaute.

Nach einem weiteren Jahr trennte sich ihr Freund von ihr. Eine unschöne Geschichte. Es stellte sich heraus, dass er eine andere kennengelernt hatte (mit der er übrigens heute noch zusammen ist). Ich stand auf einmal zwischen den beiden und hatte Angst, von einer Seite zu einer Entscheidung gezwungen zu werden – wozu es glücklicherweise nie kam. Ich fuhr mit ihm in den Urlaub. Sie brach vor mir in Tränen aus, als ich das sagen musste. Doch kein böses Wort kam über ihre Lippen.

Später führten unsere Wege zwar an verschiedene Unis, unsere Freundschaft hatte aber weiterhin Bestand. In einer schönen Stadt traf sie einen Mann, in den sie sich glücklich verliebte. Bald schon war klar, dass daraus mehr werden würde. Eines Tages – wir teilten uns gerade einen großen Teller Fisch – überraschte sie mich damit, dass er ihr einen Antrag gemacht habe und sie ihn nun heiraten werde. Damit war sie die erste in meinem Freundeskreis! Ich freute mich riesig für sie und fürchtete zugleich die Veränderung, die dadurch eintreten könnte.

Es sollte sich zeigen, dass diese Sorge unberechtigt war. Ihren Zukünftigen lernte ich als sehr sympathischen, lebenserfahrenen und vorurteilsfreien Menschen kennen. Ich wurde zur Hochzeit eingeladen, und nicht nur das: Ich durfte sogar Fotograf sein! Natürlich wollten sie Geld sparen, aber für mich war das eine große Ehrung und obendrein die ideale Beschäftigung auf einer Feier, bei der ich ansonsten ziemlich allein sein würde. Sie kündigte an, sie wolle einen Tanz mit mir – mir, der ich nicht einen einzigen Schritt beherrsche! Doch nichts auf der Hochzeit wurde peinlich für mich, alle Leute sahen mich mit der Kamera als willkommenen Teil des Festes, ich lichtete das Paar während und nach der Trauung ab, und mein abendlicher Tanz mit der Braut, der mehr einer abenteuerlichen Versuchsanordnung glich, fiel gar nicht weiter auf. Der Bräutigam stand sogar noch daneben und gab mir Hinweise. Nicht nur deshalb musste ich mich an diesem Tag für nichts schämen und war glücklich dabei.

Nun sehen wir uns alle paar Monate und es gibt jedes Mal viel zu erzählen. Mit Sicherheit auch nächste Woche, wenn wir uns wieder treffen. Es gibt sie also noch, die Geschichten, die gut ausgehen.
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Essis Geschichten, Teil 6: Aus der Schulzeit

Beitrag von Der Essi »

Bitte nicht!, werden jetzt einige stöhnen. Aber ich will hier niemanden mit meinen Teenie-Verklemmtheiten langweilen, und deshalb erzähle ich einfach, welche Einflüsse m.E. wesentlich dazu beigetragen haben, dass ich nie richtig den Anschluss gefunden habe. Mir ist klar, dass viele von euch diese kleine Geschichte in großen Teilen kennen. Umso dankbarer bin ich euch, wenn ihr schreibt, wie ihr mit derartigen Prägungen lebt.


Mit 9 hatte ich zum ersten Mal Gefühle für ein Mädchen. Damals waren die natürlich überhaupt nicht en vogue. Ich selbst war klein, unsportlich, galt als Heulsuse und Professorchen. Ich hatte zwei Freunde, wir waren Lehrers Lieblinge und eifersüchtig aufeinander, wenn einer dem andern den Spielgefährten wegnahm. Notenmäßig konnte mir nur eine in der Klasse das Wasser reichen, und das war das hübsche Mädchen, das vor mir saß. Während die andern Jungs das, was sie sich unter Liebe vorzustellen begannen, mit Witzen ins Lächerliche zogen und einige Mädchen aufgeregt Liebesbriefchen an den Klassenschönling schrieben, lernte ich, meine seltsamen Gefühle für mich zu behalten und zu verstecken. Ich war unendlich schüchtern und wusste überhaupt nicht, wie ich mit dem Wesen vor mir jemals in Kontakt treten sollte.

Zwei Schuljahre später zogen wir aus meiner Heimatstadt weg. Die wenigen Freunde, die ich gehabt hatte, gingen verloren. Brieffreundschaften verliefen im Sande. In der neuen Schule war ich Klassenbester und Außenseiter par excellence. Mein wichtigster Freund hielt, wenn es drauf ankam, nicht zu mir. Als im Biounterricht das Thema Sexualkunde drankam, hielt ich mich – nach Aussage des Lehrers – „vornehm zurück“. In Wirklichkeit hatte ich überhaupt nicht die Mittel, um über sowas zu sprechen (und habe sie teilweise bis heute nicht). Verliebt war ich natürlich auch – in das Mädchen, für das, mehr oder weniger offensichtlich, fast alle Jungs in der Klasse schwärmten. Nur ich nahm es so richtig ernst. Gleichzeitig wäre ich lieber gestorben als damit rauszurücken. Nach zwei Jahren ging ich zum Gymnasium, meine ‚erste große Liebe‘ zur Realschule. Trotzdem kam ich nicht von meinen Traumbildern los. Unter diesem Stern stand meine gesamte restliche Schulzeit. Zwar gab es später andere, die ich heimlich verehrte, aber die waren nichts im Vergleich zu dem Bild, das mich beherrschte.

Meine Lehrer schätzten mich als eigenbrötlerisch, aber vernünftig und früh erwachsen ein. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass ich innerlich ein ängstlicher 12-Jähriger geblieben war – auch nicht ich selbst. Mit meinen Eltern oder sonst jemandem über meine Probleme zu sprechen, war schlicht unmöglich, das hatten sie mir nie beigebracht. Also fing ich an zu schreiben.

Meine Deutsch-Hausaufgaben wurden zu den Vorzeigeaufsätzen der Klasse. Im Sport versagte ich weiter regelmäßig. Ebenso in allem, was mich irgendwie mit Mädchen in Berührung hätte bringen können. Ich wurde zu kaum einer Feier eingeladen (und wenn, tat ich dort eigentlich nichts), trank keinen Alkohol und mied jede Disko. Während bei einer Kellerparty das Rumknutschen und Übereinanderwälzen begann, döste ich dort im alten Sessel und lauschte der Musik. Wo immer ich hinkam, fand ich zwar irgendein Mädchen, das mich anzog, aber keinen Weg, mal eins davon auszuziehen. Kein Mädchen interessierte sich für mich, und wenn doch, nahm ich es nicht wahr. In der Abizeitung, die ich druckfertig machte, während sich die andern beim Abizelten am See vergnügten, hatte man mich unter den „Introvertiertesten“ eingeordnet und – völlig an der Realität vorbei – als Vegetarier. Keiner wusste, wer ich war. Ich selbstverständlich auch nicht.

Meiner ersten unerfüllten Liebe nicht mehr hinterherzutrauern, lernte ich erst, als ich zum Studium in meine Heimatstadt zurückkehrte. Über ein soziales Netzwerk hatte ich dann noch kurzen Kontakt mit ihr. Der machte mir klar, dass ich für sie nur einer unter beliebig vielen war. Das war mir egal. Die Liebe, die mir immer noch heilig war, fand schnell andere Ziele. Ich war da, wo ich hingehörte. Und ich war frei.
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Essis Geschichten, Teil 7: Der Vierte im Dreieck

Beitrag von Der Essi »

Zurück in die Zeit des Studiums. Diesmal ins Auslandssemester. Eine aufregendes halbes Jahr mit vielen Erlebnissen, aber eben nicht nur schönen. Die Erfahrungen aus dieser Zeit habe ich schon einmal in einer anderen Form umfassend verarbeitet, ich versuche hier nun das Wichtigste zum Thema zu berichten. Die Grundaussage ist in etwa, dass ‚seinem Herzen zu folgen‘ genau der falsche Weg sein kann.


Vor dem eigentlichen Beginn eines Auslandssemesters hat man in der Regel die Möglichkeit, einen Sprachkurs zu belegen. Der hat auch den Vorteil, dass man auf einen Schlag viele neue Leute kennenlernt. Ich habe auf die Weise meine wichtigsten Begleiter für diese Zeit gefunden, eine Gruppe von im Kern drei weiblichen und einer weiteren männlichen Person. Sie waren alle deutschsprachig, was kein Wunder ist, denn man hatte die Kursgruppen nach Sprachnationen sortiert. Es begab sich, dass ich mit der Frau, um die es in dieser Geschichte geht, gleich nach Ende des ersten Kurstages durch die Stadt zog. Ich hatte sie mir „ausgesucht“, weil ich mich in einem neuen Gruppenumfeld lieber mit Leuten zusammentue, die auch eher am Rand stehen. Und natürlich, weil sie mir gefiel. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt noch kein Zimmer gefunden und wirkte ziemlich orientierungslos. Schon erwachte mein Helfersyndrom. Ich konnte ihr zwar nicht mit einer Bleibe dienen, aber dafür ein paar Dinge zeigen, die ich dank meines einheimischen Freundes bereits wusste. Die nächsten Nachmittage verliefen so, dass wir gemeinsam mit einer dritten Kursteilnehmerin durch die Läden und Einkaufszentren tingelten, um uns mit dem Wichtigsten einzudecken. Am ersten Wochenende machten wir zu dritt einen Ausflug an einen See und gingen baden, das fühlte sich richtig toll an (na gut, mein schmächtiger Körper und meine Kurzsichtigkeit machen sowas für mich auch immer etwas peinlich).

Eine Woche später verbringen wir mit sechs Leuten zwei sonnige Tage am Meer. Wir übernachten in einer Hostelsuite mit traumhaftem Ausblick. Ich sitze die halbe Nacht allein auf dem Balkon und mache mir Gedanken über unsre Gruppe, über mich und über sie. Die Tage vergehen, ständig treffen wir uns, zu zweit, zu dritt, zu viert, zum Essen, zum Feiern, in Kneipen, zum Joggen im Park oder zum Faulenzen, zum Lernen, an der Fakultät sowieso – und wenn wir uns nicht sehen, chatten wir. Doch irgendwas fehlt bei alledem, ein gewisser innerer Zusammenhalt, der schwer zu erreichen ist. Unsre Gruppe bleibt nun mal eine Gemeinschaft auf Zeit. Immer wieder befallen mich Momente der Einsamkeit, Verlassenheit, Sinnlosigkeit. Was ich mir wünsche, sind Freunde, mit denen ich darüber sprechen kann. Die ausgedehnten Chatgespräche mit meiner besten Freundin sind ein kümmerlicher Ersatz. Und dann ist da wieder diese verdammte Sehnsucht…

Ein paar Wochen später ist ihr Freund für einige Tage zu Besuch. Eigentlich soll es der erste Tag seit Langem werden, an dem ich sie nicht sehe. Und was passiert? Zufällig treffe ich die beiden im Supermarkt und bin gezwungen, ihm die Hand zu drücken. Hinterher wird sie sich wundern, dass ich so schnell weg war. Tatsächlich ging ich in eine leere Kirche, und wenn ich hätte beten können, hätte ich dem Herrgott gesagt, dass er allein weiß, wie wir am glücklichsten sind, denn ich wusste es nicht.

Unsere gemeinsamen Ausflüge setzten sich fort, es kamen Koch- und Filmabende hinzu, auch eine kleine Geburtstagsfeier. Doch sie begann auf einmal, sich mehr und mehr zurückzuziehen, sich ganz ungewöhnlich von mir und auch den andern zu distanzieren. Dann kam der Tag, an dem sie wegfahren wollte, um ihren Mitbewohner aus Deutschland in einer angesagten osteuropäischen Stadt zu treffen. Ich wollte sie am Bahnhof verabschieden, sie reagierte auf meine Fragen aber nur ausweichend und sagte ein vereinbartes Treffen ab. Kurz entschlossen fasste ich mir ein Herz und ging zum Bahnhof. Dort aber musste ich sie mit dem andern aus unsrer Gruppe sehen! Völlig erstarrt sitze ich auf den Stufen der Bahnsteigtreppe, kann nicht hinsehen und irre zurück zum Bahnhofsgebäude, wo alles auf mich einzustürzen scheint. Später finde ich, kein Witz, eine abgerissene rote Blume am Parkplatz, deren Blätter ich in den Wind puste, während vor meinen Augen der Zug abfährt. Dann fang ich an zu weinen.

Diese Geschichte wirkt total unwirklich, und doch ist alles so passiert. Mir kam es selbst kaum glaubhaft vor und ich konnte nicht anders, als es der andern aus der Gruppe zu erzählen. Die sah sich in ihrem Eindruck bestätigt und riet mir, die Sache nicht zu schwer zu nehmen. Das half mir nicht. Ich wurde nur paranoider und warf dem andern am nächsten Tag meine Enttäuschung an den Kopf. Der ließ mich daraufhin stehen, und ich hatte zum ersten Mal ernsthaft das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die Hälfte meines Auslandssemesters war rum, und ich war innerlich am Ende.

Wie so oft half mir die Sprache aus dem Abgrund heraus. Ich schrieb ihr eine lange Mail, offenbarte darin mit angemessenen Worten meine Gefühle und was ich getan hatte, dass ich eigentlich nur meinem Herzen gefolgt sei und jetzt Angst habe, sie als Freundin gänzlich zu verlieren. Sie reagierte gefasst, aber auch leicht angesäuert. Sie wollte natürlich nicht, dass ihr Verhältnis mit dem andern aufflog, und ihrem Herzen gefolgt, das sei sie wohl auch. Als sie eine Woche später wieder zurück war, sprachen wir uns aus. Und beschlossen, dass wir Freunde sein wollten.

Die Affäre beendete sie schließlich, nachdem sie es ihrem Freund gebeichtet hatte und über Weihnachten zu Hause gewesen war. Wir sahen uns danach nur noch kurz, weil sie ziemlich schnell ihre Zelte abbrach. Es entstand aber ein regelmäßiger Mailkontakt, einige Zeit später kam sie nach Berlin und ich besuchte sie in ihrer Stadt. Seither haben wir uns noch weitere Male wiedergetroffen, unsere Freundschaft besteht also fort, auch wenn wir nicht mehr über Gefühle reden oder über das, was nun einmal geschehen war.
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Der Essi
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Essis einsame Gedanken

Beitrag von Der Essi »

Alles wie immer

So heißt das Gefühl, wenn du nach zwei Wochen Familienurlaub zurück in die große Stadt kommst und nicht mehr weißt, worauf du dich freuen solltest. Das Zimmer: Das ist also dein Leben. Wieder. Immer noch. Es ist längst zu klein für deine Wünsche.

Der Postkasten war ausnahmsweise voll. Ein Brief kündigt dir an, dass du demnächst auf einen Schlag so und so viel hundert Euro blechen musst. Na toll. Unter dem Tisch liegen noch die Brötchenkrümel vom letzten Frühstück. Also erst mal staubsaugen. Der Philodendron im Bad darbt vor sich hin. Die Erde ist so trocken, dass das Wasser, das du draufgibst, einen See bildet. Tja, das war's dann wohl, lieber Baumfreund.

Auspacken. Alles in die gewohnten Schubladen tun. Wieder mal Bücher schieben im Regal, Platz schaffen für die neuen. Das alte Reclamheft gegen die schönere Klassikerausgabe tauschen. Die Teepackung in den Schrank stellen. Dabei feststellen, dass der Kräutertee in der blau-weiß-gestreiften Verpackung immer noch da ist. Erinnerung an -. Leben kann so grausam sein.

Im abgetauten Kühlschrank steht eine angefangene Flasche Wein. Ob der noch gut ist? Mal kosten. Scheint so. Und wenn du dich dran vergiftest, auch egal. Dann würde wenigstens mal was anders sein als sonst. Dummer Gedanke? Nein. Ein einsamer.

Alles wie immer. So heißt das Gefühl, ins eigene Leben zurückzukehren in dem Wissen, dass alle Hoffnung auf Veränderung erneut umsonst war.
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Re: Essis einsame Gedanken

Beitrag von Der Essi »

Vorbei

Erster Gedanke am Morgen: Es ist vorbei. Zweiter Gedanke: Es hätte so schön sein können. So folgerichtig. Dritter Gedanke: Wie kann etwas vorbei sein, das nicht einmal angefangen hat?

Vom Trennungsschmerz ist oft zu hören, von den Qualen des Verlassenwerdens und wieder Alleineseins, von der plötzlichen Leere im Bett und im Leben, von der gefühlten Sinnlosigkeit. Ist denn der Schmerz enttäuschter Hoffnungen so viel geringer, dass es seiner Erwähnung nicht bedarf? Ach, es war ja "nur" ein Online-Kontakt, es gab ja "nur" ein paar mehr Gemeinsamkeiten als erwartet, es war ja "nur" ein Treffen... Dagegen klingt "Es war ja nur eine Beziehung" geradezu absurd. Jedenfalls aus meiner Sicht.

Ist es wirklich nötig, alles andere davor hinunterzuspielen? Was, wenn die Hoffnung, zu lieben und geliebt zu werden, für jemanden (wie mich) schon das höchste der Gefühle ist? Was, wenn diese Hoffnung in einen Zustand übergeht, den man tiefe Zuversicht nennen könnte? Ist deren Enttäuschung dann weniger schmerzhaft als das Ende von etwas, das angefangen hat?

Ich weiß es nicht. Kann es nicht wissen. Ich kenne nur das Ende von etwas, das nicht angefangen hat. Trotzdem wiederhole ich weiter mein Mantra: Es ist vorbei. Vorbei. Vorbei. Vorbei...
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Re: Essis einsame Gedanken

Beitrag von Der Essi »

Es gibt Leute, die meinen, dies sei der falsche Ort für meine Gedanken.
Es gibt Leute, die mir vorwerfen, ich würde bloß rumjammern wollen.
Es gibt Leute, die mutmaßen, ich würde niedere Absichten verfolgen.

Denen sage ich: Es ist mir egal, was ihr denkt. Kümmert euch lieber um eure eigenen Probleme.

Es gibt Leute, die sich in meinen Gedanken wiederfinden.
Es gibt Leute, die mir ihre eigenen Geschichten erzählen.
Es gibt Leute, die mir ungefragt Trost spenden.

Denen sage ich: Danke. Euretwegen bin ich hier.
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Re: Essis einsame Gedanken

Beitrag von Der Essi »

Erinnerung und Frage

Der August 2012 war ein Leidensmonat für mich. Ende Juli schrieb ich in mein Tagebuch: Die Welt muss verrückt sein, denn wie ist es sonst möglich, dass sie mich erst so enttäuscht und dann wieder glücklich macht? [...] Sie fragt, was mit mir los gewesen sei die letzten Tage; ihre Einschätzungen meiner Lage treffen genau zu, ohne jedoch anzudeuten, dass sie deren Grund erahnt. Ablenken will sie mich wenigstens, und das ist mir recht. Wenn wir uns unterhalten, scheint die Welt fast zu verschwinden.
Drei Tage später: Mein Leben ist eine einzige Anleitung zum Unglücklichsein.
Eine Woche darauf: Mein Glück steht unter Strafe. Für jede Hoffnung bekomme ich drei Schläge in meinen Seelenleib.

Die Frage, die mich heute wie damals umtreibt, lautet: Warum reagiere ich so sensibel auf Zurückweisung? Mir hat mal jemand gesagt, ich sei überempfindlich. Andere haben es vielleicht nur gedacht. Doch niemand steckt in meiner Haut als ich selbst. Ich weiß nicht, warum ich so bin. Jeder Mensch hat seine Macke, und das ist wohl meine.
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Re: Essis einsame Gedanken

Beitrag von Der Essi »

Das wahre Glück

Mein Lieblingsphilosoph schrieb einmal:

"Die Menschen sehen zuerst die Dinge nur so, wie sie ihnen erscheinen, nicht, wie sie sind, sehen in den Dingen nicht sie selbst, sondern nur ihre Einbildungen von ihnen, legen ihr eigenes Wesen in sie hinein, unterscheiden nicht den Gegenstand und die Vorstellung von ihm. Die Vorstellung liegt dem ungebildeten, subjektiven Menschen näher als die Anschauung, denn in der Anschauung wird er aus sich herausgerissen; in der Vorstellung bleibt er bei sich. [...] Die Anschauung widerspricht mir, die Vorstellung aber gibt mir immer recht [...]."

Wenn ich mir Hoffnungen mache, lebe ich in meiner Vorstellungswelt und sehe Dinge, die ich sehen will. Bilde mir ein, dass Zufälle, die einfach geschehen, auch etwas bedeuten. Halte sogar Dinge für Tatsachen, noch bevor sie wirklich sind. Und die Zweifel fallen nicht ins Gewicht, solange es keine Widersprüche gibt. Die Illusion hält also bis zum Widerspruch, der mich in die Wirklichkeit zurückreißt.

Was ist nun wünschenswerter: Vorstellung oder Anschauung, Bei-sich-Bleiben oder Aus-sich-herausgerissen-Werden, Traum oder Wirklichkeit? Die Aussage meines Lieblingsfilms lautet: Das reale Leben ist das wahre Glück. Doch was ist dieses reale Leben, vor dem ich noch immer die Augen verschließe?
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Re: Essis einsame Gedanken

Beitrag von Der Essi »

Vergleiche

Vergleiche mit Leuten aus dem Freundes- und Bekanntenkreis fallen meist schlecht aus. Ein Bekannter (30) heiratet heute, eine gute Freundin ist bereits verheiratet, eine andere ist verlobt und hat dank eines Jobs in einem renommierten Haus beste Karriereaussichten. Eine steht kurz vor der Verbeamtung, zwei andere reisen (unabhängig voneinander) mal wieder durch die weite Welt. Einer hat sein erstes Buch veröffentlicht, ein anderer ist dank eines Stipendiums auf dem besten Weg dorthin. Usw. usf.

Ich habe nichts dergleichen erreicht oder auch nur in entfernter Aussicht. Meine Arbeit ist mühselig und wenig ertragreich. Ich kann vielleicht mal Amateurmeister werden, wenn es außergewöhnlich gut läuft. Wenn. Aktuell bleibt mir festzustellen, dass ich mir bei dem, was ich mir wünsche, immerzu selbst im Weg stehe. Ich frage mich, ob ich mein Leben jemals eigenständig auf die Reihe bekomme.
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Re: Essis einsame Gedanken

Beitrag von Der Essi »

Sisyphos

"Ohne Schatten gibt es kein Licht; man muss auch die Nacht kennenlernen." - Wie viel Nacht kenne ich? Zu wenig? Genug? Zu viel? Der Schatten, das ist die Sinnlosigkeit, der Abgrund, der mich von dem Leben trennt, das ich mir einst wünschte. Ich wünsche es mir immer wieder, suche nach Wegen, will lernen, wie man Brücken baut. Treffe Menschen, die das gleiche Ziel haben, doch auf anderen Wegen gehen. Und ab und zu, da kommt es mir vor, als begleite mich jemand ein Stück des Weges und stelle die gleichen Fragen und habe die gleichen Wünsche... Ist die Nacht nicht nur gemeinsam zu überstehen?

Aber dann muss ich erkennen, dass mich auch von den Menschen Abgründe trennen und die Brücken, die uns verbinden, schmale Stege sind. Ich weiß nicht, wie viele Schritte es braucht, um hinüber zu gelangen. Vielleicht unendlich viele. Ich habe Angst zu fallen, will nicht nach unten sehen, rede mir ein, ich werde es schaffen. Und falle dennoch, jedes Mal aufs Neue. Aus dem Schatten führt der Weg zum Licht, und so geht es immer weiter...

Der Felsen, den Sisyphos den Berg hinaufwälzt, rollt kurz vor dem Gipfel jedes Mal wieder hinab. Die Sinnlosigkeit ist die Strafe, das Schicksal, das die Götter ihm auferlegt haben. Sie ist sein Leben geworden, seine Aufgabe. Er kann den Stein nicht fortwerfen, er muss etwas mit ihm tun. Kann er trotzdem glücklich sein? Der Philosoph des Absurden meint, uns bleibt gar nichts anderes übrig als das anzunehmen. Wenn das Leben auch ein sinnloser Kampf ist, das Steinewälzen, das Aufbegehren hat seinen eigenen, menschlichen Wert. Ich werde also weiter im Schatten unterwegs sein - "ein Blinder, der sehen möchte und weiß, dass die Nacht kein Ende hat."
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Re: Essis einsame Gedanken

Beitrag von Der Essi »

Vergessen

Eine Frau riet mir am Ende unseres ersten und einzigen Abends zu zweit: "Du musst vergessen."

du musst vergessen du musst vergessen du musst vergessen du musst vergessen du musst vergessen du musst

Vergessen ist lebensnotwendig. Zu viele Erinnerungen, vor allem die unangenehmen, würden mich zu sehr belasten. Vergessen ist heilsam. Es wäre zu schmerzhaft, wenn ich mich an jede Verletzung erinnern würde. Vor allem an die Gefühle, die ich dabei hatte. Dummerweise lauf ich deswegen, manchmal blind und manchmal sehend, alle Jahre in die gleiche Falle.

du musst vergessen du musst vergessen du musst vergessen du musst vergessen du musst vergessen du musst

Vergessen ist ein Automatismus des Gehirns. Leider mit einer sehr eigenwilligen Dynamik. Es gibt Dinge, an die würde ich mich gern besser erinnern. Weil sie zu mir gehören. Und es gibt Dinge, die kann ich nicht vergessen, so sehr ich es auch wollte. Weil sie auch zu mir gehören.

du musst vergessen du musst vergessen du musst vergessen du musst vergessen du musst vergessen du musst

"Du musst vergessen." Das ist schnell gesagt. Aber Vergessen ist nun mal kein aktiver Vorgang. Etwas wird nur dann vergessen, wenn es unwichtig und von anderen Dingen verdrängt wird. Es verschwindet ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Und taucht dann ganz plötzlich wieder auf.

du musst vergessen du musst vergessen du musst vergessen du musst vergessen du musst vergessen du musst

Nur im Netz ist Vergessen ein aktiver Prozess. Etwas ist so lange da, bis es jemand löscht. Meine Geschichten zum Beispiel. Ich habe schon mehr als einmal daran gedacht, sie dem digitalen Vergessen zu übergeben. Aber sie sind immer noch da. Weil ich sie nicht vergessen kann.
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Re: Essis einsame Gedanken

Beitrag von Der Essi »

Sieben Mittel zur Förderung des heilsamen Vergessens (auch bekannt als Ablenkung)

1. sich auf die Arbeit konzentrieren
2. wieder mehr Sport machen
3. allg. sich in Freizeitaktivitäten vertiefen
4. Musik hören
5. endlich wieder ein gutes Buch lesen
6. sich bei Freunden und Bekannten ausheulen
7. im Forum belanglose Sachen posten

1) Fällt mir schwer. Es ist momentan mehr lästige Pflicht als eine wirksame Ablenkung. Das hat verschiedene Gründe, und einer ist, dass ich mich von andern Dingen ablenken lasse. :roll:

2) Ja, ich versuch's. Immerhin schon wieder ein paar Mal Joggen gewesen, dazu Rad gefahren, beim Training gewesen (macht auch wirklich Spaß). Nur beim Fitnessclub hab ich mich noch nicht wieder angemeldet. Das hat auch mehrere Gründe, und einer ist die fehlende Motivation. :-|

3) Ich mach ja so ein paar Sachen, aber alles in allem wird's mir grad zu viel. Überlege, hier und da zu pausieren, da ich derzeit eh nur das Nötigste tue. Dann kommt hinzu, dass ich mir kaum noch was zutraue und dementsprechend ängstlich bin. Da hilft's auch nix, wenn andere meinen, ich würde das schaffen.

4) Wird intensiv genutzt. :kopfhoerer: Was wär der Einsame ohne Musik? Hilft aber leider nur vorübergehend.

5) Hm, ich kann mich einfach nicht entscheiden... Goethe oder Murakami, Kafka oder Mitchell, Frisch oder Ruge? :buch:

6) Ist sicherlich für den Anfang nicht verkehrt gewesen, aber mittlerweile zieht mich das nur unnötig runter (die Tage wieder gemerkt). Irgendwann ist es auch mal genug. Man muss nicht jedem damit auf die Nerven gehen (was ich ja auch nicht getan habe).

7) Klappt begrenzt. Das Forum ist eine echte Gradwanderung. In der einen Minute lenkt es dich wunderbar ab, in der andern macht es dich nur noch einsamer.
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Re: Essis einsame Gedanken

Beitrag von Der Essi »

Herbstanfänge

Der Sommer ist ausgebrannt, die Temperaturen sind wieder erträglich, es wird Zeit für herbstliche Gedanken. Der Herbst ist eine eigentümliche Jahreszeit: Einerseits hört da etwas auf und zerfällt und verwelkt, andererseits fängt auch wieder etwas an. Der morgendliche Geruch von feuchten Blättern und Tautropfen im Gras erinnert mich immer an die ersten Schultage nach den großen Ferien, an neue Stundenpläne und die Ungewissheit und Neugierde, was einen wohl in diesem Schuljahr erwartet. Für die Natur ist der Herbst die Ernte und der Abgesang des Jahres, gesellschaftlich ist er ein Neubeginn oder meist richtiger: ein Wiederbeginn.

Warum schreib ich diese harmlosen Allgemeinplätze? Weil ich das Verlangen nach einem Neuanfang spüre, weil ich wieder aufgeregt sein will, wie man es nur sein kann, wenn man mit etwas Neuem beginnt. Und weil ich mich gleichzeitig frage: Wo ist dieses Neue, diese Aufbruchstimmung, diese Chance, etwas hinter sich zu lassen? Wie geht das, sein Leben wieder oder endlich in die eigenen Hände zu nehmen und neu zusammenzusetzen?

Ein Eichhörnchen sammelt Nüsse für den Winter. Nuss für Nuss, Eichel für Eichel ein Lebensvorrat. Genauso sollte ich Stück für Stück mein Leben zusammensuchen. Es wäre schließlich nicht das erste Mal.
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Re: Essis einsame Gedanken

Beitrag von Der Essi »

Abulie und Alice

Abulie (von griech. ἀβουλία 'Willenlosigkeit'): "Verlust oder Schwäche der Willenskraft, der Initiative oder des Antriebs; Handlungsunfähigkeit, die zu sozialer Inaktivität führt (soziale Abulie)" (Quelle); "unangemessene Schwäche bzw. Unvermögen, Entscheidungen zu treffen, Entschlüsse zu fassen und durchzuführen" (Quelle).

Gibt so Tage, an denen weiß ich, ich könnte/ich müsste/ich sollte, aber tu's dann doch nicht, weil ich zu willensschwach bin. Gibt so Situationen, da weiß ich ungefähr, eigentlich müsste ich jetzt, und wenn nicht jetzt, wann dann - nur findet sich immer was, was dagegen spricht. Der dumme Kopf wehrt sich einfach gegen alles, was sich länger als ein paar Sekunden in den Windungen des Bewusstseins aufhält. Manchmal möcht ich mein Hirn kneten, in Eiswasser legen und danach auswringen, damit da mal ein paar klare Gedanken rauskommen.

Neulich dachte ich schon, ich werd verrückt. Also wirklich jetzt. Bekam mit einem Mal die volle Breitseite der Absurdität zu spüren. Fand mich wieder bei Alice im Wunderland, an der Stelle, als sie die Cheshire-Katze fragt: "Kannst du mir sagen, wie ich von hier aus weitergehen soll?", worauf die Katze antwortet: "Das hängt zum großen Teil davon ab, wohin du möchtest." - "Ach, wohin ist mir eigentlich gleich..." - "Dann ist es auch egal, wie du weitergehst." - "...solange ich nur irgendwohin komme." - "Das kommst du bestimmt, wenn du nur lange genug weiterläufst."

Wenn alles egal wäre, wär's dann einfacher weiterzugehen, als wenn man noch ein Ziel hat, aber keine Wege mehr sieht? Hach, diese Fragen! Das wird doch echt zu kompliziert. Zwischen lauter Bäumen kommt's einem ja so vor, als existiere kein Wald mehr. Irgendwo kommt man doch immer an, oder? Auch, wenn man im Kreis geht? Na ja, dann hat man sich wenigstens schon mal entschieden loszugehen. Aber vielleicht sitze ich noch ein bisschen auf meinem Baumstumpf und unterhalte mich mit meiner Katze namens Abulie.

Weiß nicht, soll ich den Unsinn jetzt wirklich absenden?
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Re: Essis einsame Gedanken

Beitrag von Der Essi »

Nicht nur, sondern auch!

Da an anderer Stelle mehrfach behauptet wird, vielen ABs ginge es bloß darum, endlich Sex zu haben - und der Thread mir wenig konstruktiv erscheint -, hier mal eine kurze Auflistung, was ich mir in einer Beziehung wünsche:

- gegenseitiges Vertrauen, Treue, Ehrlichkeit
- das Gefühl, über alles sprechen zu können und füreinander da zu sein
- Interesse für das Leben und die Bedürfnisse des anderen
- gemeinsame Erlebnisse
- körperliche Nähe, Sex (ja, auch, natürlich!)
- Geborgenheit / das Gefühl, beim anderen "anzukommen"
- dass aus Verliebtheit Liebe wird

Mir ist klar, dass alles zusammen eine Wunschvorstellung ist, die sich nicht so einfach erfüllt und die auch ihre Kehrseiten hat. Kein Grund, freiwillig auf einen oder mehrere Punkte zu verzichten!
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Re: Essis einsame Gedanken

Beitrag von Der Essi »

Schlafende Hunde, wachende Katzen
Serendipity hat geschrieben:Kann es sein, dass viele ABs einfach nicht mit der Vergangenheit abschließen können, weil sie mittlerweile auch einfach Angst haben sich dem Hier und Jetzt zu stellen?
Die Frage beschäftigt mich gerade wieder, also hierzu ein paar Gedanken...

Ich würde gern mit meiner Vergangenheit abschließen, vor allem mit den Verletzungen und enttäuschten Hoffnungen der letzten Jahre. Ich würde gern Dinge, die geschehen sind, in meiner Erinnerung ungeschehen machen. Dann müsste ich mir nicht mehr diese Selbstvorwürfe machen, ob sie nun berechtigt sind oder nicht, das wäre egal, denn es gäbe sie nicht. Menschen, die ich verloren habe auf diese oder jene Weise, sie würden keine Rolle mehr in meinem Kopf spielen, sie würden nicht mehr in meinen Träumen auftauchen, sie würden nicht mehr meinen Hang zu traurigen Geschichten befriedigen und sie wären nur noch leere Seiten in meinen Tagebüchern. Einfach alles vergessen zu machen - ganz egal, ob ich die gleichen Fehler noch einmal mache -, wäre das nicht einen Versuch wert?

Leider heißt "abschließen" nicht "vergessen" oder "verdrängen", sondern seinen Frieden mit der Vergangenheit zu machen. Zu akzeptieren, dass Dinge, die geschehen sind, nun mal geschehen sind und niemals, auch nicht im Kopf, ungeschehen gemacht werden können. Es heißt, sich nicht mehr selbst oder irgendwem sonst die Schuld und den Erinnerungen keine unnötige Macht mehr zu geben.

Leider? Vielleicht ja zum Glück! Denn das Akzeptieren ist immerhin möglich, während Verdrängtes und Vergessenes immer wieder ohne Vorwarnung erwacht wie aufgestörte Hunde. Mit denen sollte ich meinen Frieden machen und mich den Katzen der Gegenwart zuwenden. Vor ihnen habe ich keine Angst, Angst habe ich bloß vor mir selbst und den schlafenden Hunden in mir.