Eine Fabel...

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ERSTER BEITRAG DES THEMAS
Herr Rossi

Eine Fabel...

Beitrag von Herr Rossi »

Der Tölpel
Es war einmal ein junger Tölpel, der war wie viele andere seiner Art in einer steilen Felswand zur Welt gekommen, irgendwo hoch über dem Meer. In den ersten Wochen, während ihnen die Federn wuchsen, die sie zum Fliegen benötigten, saßen die Vögel nur in ihren Nestern. Dann brach die Zeit der ersten Flugübungen an. Einige der jungen Tölpel waren besonders mutig und schnell, kaum konnten sie ihre Flügel ausbreiten, da stürzten sie sich kopfüber in die Tiefe, darauf vertrauend, daß die Luft sie schon tragen würde. Und tatsächlich, sie wurden getragen. Ihre Flüge waren meist kurz und gar nicht elegant, was sie aber nicht zu stören schien, denn sie versuchten es immer wieder. Manche trugen Blessuren davon, wenn sie die Kontrolle verloren und den Felsen streiften oder wenn sie mit zu hoher Geschwindigkeit landen wollten. Ernstliche Verletzungen schien es aber nicht zu geben.
Unser junger Tölpel war nicht bei den ersten, die den Sprung wagten. Er war eher schwächlich und hatte, wie viele junge Vögel, eine gewisse Höhenangst. Zudem schienen ihm die kurzen, uneleganten Versuche der anderen wenig attraktiv, er träumte von einem langen Flug übers Meer. Die spöttischen Blicke einiger früh ausgeflogener aus umliegenden Nestern machten ihm daher nichts aus. Seine Zeit würde kommen, und dann würde sich zeigen, wer der bessere Flieger war.
Endlich beschloß er, den ersten Flugversuch zu wagen. Er spreizte seine Flügel und stellte sich auf den Rand des Nestes. Gerade als er sich abstoßen wollte kam ein anderer Tölpel vorbei, beäugte seine Schwingen und begann fürchterlich zu lachen: "Du willst fliegen? Mit den kümmerlichen Stummelflügeln?" Unser Tölpel sah zweifelnd in die Tiefe. Er glaubte nicht wirklich, daß seine Flügel schwächer waren als die der anderen. Aber konnte man sicher sein? Er sah auf die umliegenden Nester. Da und dort saßen andere nicht ausgeflogene Junge. Er beschloß noch etwas zu warten, klappte die Flügel ein und setzte sich wieder.
Nicht viel später glaubte er seine Zeit gekommen und bereitete sich erneut auf den ersten Flug vor. Als er gerade die Flügel ausgebreitet hatte kam ein anderer Tölpel vorbei, schüttelte den Kopf und sagte: "Wie hältst Du denn Deine Schwingen? So wird das nie etwas!" Unser Tölpel wollte gerne fragen, wie er sie denn wohl halten solle, aber der andere war schon verschwunden. Verunsichert kehrte er ins Nest zurück.
Er sah sich wieder um. In den anderen Nestern war es deutlich leerer geworden, viele Vögel hatten sich auf den langen, gefährlichen Weg über das Meer begeben. Manche hatten unterwegs aufgegeben und waren wieder zurückgekehrt. Zum Teil versuchten sie es erneut, zum Teil waren sie verletzt, manche schwer. Diese sprachen abfällig über das Fliegen, schworen, es nie wieder zu versuchen und rieten ihm, es nicht zu tun. (Er bemerkte aber, daß auch die, die am lautesten gegen das Fliegen wetterten es doch heimlich wieder versuchten oder zumindest anderen, fliegenden Vögeln sehnsüchtige Blicke nachwarfen).
Auch unser Tölpel bereitete sich erneut aufs Fliegen vor. Aber kaum war er aufgestanden, um die Flügel auszubreiten, da vernahm er die Stimme eines anderen: "Du willst jetzt fliegen? Bei diesem Wetter?" Er wollte fragen, was denn mit dem Wetter nicht in Ordnung sei, aber der andere war schon verschwunden. Entmutigt zog unser Tölpel den Hals ein und ging zurück ins Nest.
Im Laufe der Zeit hatte er den Überblick über die Nachbarnester verloren. Er wußte nicht, wer von den anderen schon geflogen war und wer nicht, hatte aber den Eindruck, er sei der einzige verbliebene Nichtflieger. Offensichtlich sah man ihm nicht an, daß er den Sprung noch nicht gewagt hatte, denn niemand machte sich darüber lustig. Wahrscheinlich wurde er für einen der verletzten Rückkehrer gehalten. Er kam zu dem Schluß, nicht zum Fliegen bestimmt zu sein und begann sich mit seiner Lage abzufinden.
So vergingen mehrere Wochen.
Irgendwann bemerkte unser Tölpel, daß die Tage immer kürzer wurden. Er fragte einen der älteren Vögel, was es damit auf sich habe. Der erklärte ihm, daß nun bald der Winter komme und daß er gut daran täte, schnellstens übers Meer zu fliegen, da er es sonst wohl nicht mehr schaffen würde und in der Kälte zurückbleiben müsse.
Schon längst hatte unser Tölpel voller Verwunderung festgestellt, daß unter den anderen Tölpeln viele waren, die deutlich kürzere Flügel hatten als er, die aber trotzdem flogen; und daß viele andere Tölpel offensichtlich mindestens ebenso ungeschickt mit ihren Schwingen waren wie er, sie aber trotzdem flogen; und daß das Wetter häufig schlechter war als bei seinem letzten Beinahe-Flugversuch, viele Tölpel aber trotzdem flogen. Aus welchem Grund sollte gerade er nicht fliegen können? Und so faßte er den Entschluß, endlich wie alle Tölpel zu fliegen, koste es was es wolle.
Er suchte sich eine günstige Stelle in der Wand, breitete die Flügel aus und sah sich vorsichtig um, förmlich auf die Stimme eines anderen wartend, die etwas an ihm, seiner Haltung oder den äußeren Umständen kritisierte. Aber wider alle Erfahrung blieb alles ruhig. Er stand lange, lange so da, hatte das Bedürfnis zu springen, wurde aber zurückgehalten von den Stimmen aus der Vergangenheit und von seiner immer noch nicht überwundenen Höhenangst.
Schließlich ließ er sich fallen. Er fiel steil abwärts, mit ausgebreiteten Schwingen. Es war ein wunderbares Gefühl, so dahinzugleiten. Wunderbar, wie einfach es ging.
Im nächsten Moment wurde er von einer Böe erfaßt, die ihn hin und her warf und ihn gegen die Felsen zu schmettern drohte. Er war völlig hilflos.
Da merkte der Tölpel, daß Fliegen doch schwieriger war, als er gedacht hatte.

Warum nur hatte ihm nie jemand über den Wind erzählt?

ERSTER BEITRAG DES THEMAS
Fenris

Beitrag von Fenris »

...und bevor ihn die Windböe gegen die Wand schmetterte konnte er sich auf einen Felsvorsprung retten. Nun saß er wieder alleine da ohne richtig geflogen zu sein. Und wie er mit erschrecken feststellte 10 Meter tiefer als vorher. Um ihn herum saßen weniger Vögel als weiter oben. Zweimal probierte er es noch und konnte sich nur mit mühe wieder in die Felsen retten. Soweit unten in der Felswand saßen kaum noch andere Tölpel und die wenigen die da waren grinsten ihn hämisch an. Viele waren auch schon aufgebrochen da der Winter kurz bevorstand. Die zunehmende Kälte spornte den Tölpel noch zu einigen weiteren Versuchen an die alle kläglich scheiterten. Die Abstände zwischen den Versuchen wurden immer größer und schließlich gab der Tölpel die Hoffnung auf jemals fliegen zu lernen, denn mittlerweile saß er ganz unten und vom Meer trennten ihn nur noch wenige Meter. Wenigstens musste er sich nicht mehr den Spott der anderen anhören, den die waren längst abgeflogen. Der Tölpel fror entsetzlich und die Kälte kroch in ihm hoch. Er kauerte sich zusammen, schlief ein und träumte davon wie er hoch über dem Meer der Sonne entgegen fliegen würde. Aufgewachen tat er nicht mehr weil er in dieser Nacht erfror. Die anderen Tölpel kamen einige Monate später wieder um die nächste Generation aufzuziehen. Vermissen tat ihn keiner.
Herr Rossi

Beitrag von Herr Rossi »

Hi Fenris,
keine schlechte Fortsetzung!
Die Original-Fabel habe ich vor mehr als 10 Jahren geschrieben (mit 27). Damals schien meine erste Beziehung zum Greifen nah, aber es gab eben Schwierigkeiten. Am Ende wurde nichts draus, und ich habe auch eine Fortsetzung geschrieben. Die ist genauso depressiv wie Deine...
Aber: Heute geht es mir gut und ich würde eine positivere Fortsetzung schreiben!

Hier meine Fortsetzung von damals:


Wie würde der Flug enden? Würde er es schaffen, das Meer zu überqueren, oder würde er wie so viele andere als verletzter Zyniker, irgendwo auf einem Felsvorsprung, für den Rest seines Lebens über die Sinnlosigkeit des Fliegens lästern? Dieser Gedanke war ihm unerträglich, er begann heftig mit den Flügeln zu schlagen. Und langsam, ganz langsam, gelang es ihm, sich von der Wand zu entfernen.
Aber kaum hatte er begonnen zu glauben, er könne nun den Wind beherrschen, als eine noch weit heftigere Böe einsetzte und ihn gegen den Felsen warf. Die Landung war sehr unsanft und schmerzhaft, er blieb benommen auf einem schmalen Felsvorsprung liegen.
Vorsichtig prüfte er seinen empfindlichen Körper auf Verletzungen. Er fand etliche Abschürfungen, aber offensichtlich waren seine Knochen heil geblieben. Nach einer längeren Erholungspause betrachtete er die neue Situation. Die Bedingungen schienen ähnlich wie vor seinem ersten Start, nur der Abstand zwischen ihm und der nun klar zu erkennenden, schäumenden und gischtspritzenden Wasseroberfläche hatte sich auf wenige Meter verringert. Er legte den Kopf in den Nacken und besah sich die Wand oberhalb seines unfreiwilligen Aufenthaltsortes. Es war nicht daran zu denken, höher hinauf zu klettern. Ihm blieb also nur der Weg durch die Luft, um von hier wegzukommen. Ein glatter, völlig gelungener Start könnte ihn retten. Aber war es realistisch, einen guten Start mit sofort beginnendem Steigflug für möglich zu halten, wo ihm doch sein erster Versuch so gründlich mißlungen war?
Und wenn er es nicht schaffte?
Dann würde er auf dem Wasser landen müssen. Für einen erfahrenen Tölpel bedeutete das kein Problem; er als Anfänger hätte jedoch keine Chance, sich wieder von der Wasseroberfläche zu erheben. Eine Notlandung auf dem Wasser wäre sein Ende.
Beim Gedanken daran wurde ihm flau im Magen. Aber weiteres Zögern hatte keinen Sinn, die Entscheidung mußte herbeigeführt werden. Sobald der Wind abgeflaut war, stellte er sich an die Kante des Felsens, breitete die zitternden Flügel aus. In diesem Moment hörte er schallendes Gelächter, dessen Urheber knapp oberhalb seines Felsvorsprungs sitzen mußte. Das Lachen klang schauderhaft, hallte vom Felsen wider und schien seinen ganzen Kopf auszufüllen.
Er schloß die Augen und stieß sich mit beiden Füßen kräftig ab.

Der Aufprall des kleinen Vogelkörpers auf der Wasseroberfläche verursachte ein platschendes Geräusch, das jedoch durch die Brandung und das anhaltende, nun ins hysterische gesteigerte Gelächter überdeckt wurde.