Reinhard hat geschrieben: ↑25 Dez 2018 19:51
Das ist jetzt eigentlich gerade das, was ich in Frage stelle, ob heutzutage nicht vor allem die Bereitschaft gesunken ist, mit den Macken leben zu wollen (oder zumindest eine Zeit lang, sie ändern zu wollen), und das dann nach außen so
aussieht, als ob man Mackenfreiheit sucht.
Gesunken im Vergleich zu wann?
Es gibt ja im Wesentlichen zwei Beziehungsphasen: einmal die Phase, nachdem sich beide Seiten entschieden haben, mit diesem Menschen den Rest ihres Lebens verbringen zu wollen und alles in ihren Kräften stehende zu tun, um das zu erreichen - und die Phase davor. Erstere läuft unter den Bezeichnungen "Ehe", "fest zusammen sein", "Lebensgefährten", "zusamenziehen" usw. - letztere eher unter "Kennenlernphase", "es locker angehen", "laufen lassen und schauen wie es sich entwickelt" und ähnlichen Beschreibungen.
Nach meinen Beobachtungen ist in der festen Phase die Bereitschaft, Macken zu akzeptieren bzw. gemeinsam daran zu arbeiten, sehr groß. Dass die Scheidungsraten trotzdem so hoch sind, liegt vermutlich eher daran, dass man nicht mehr um jeden Preis eine Partnerschaft braucht - man überlebt auch allein. Die schlimmsten "Macken" - z.B Alkoholismus, verbale oder physische Gewalt, absolut inkompatible Entwicklung der Lebensziele - muss man nicht aushalten. Trotzdem trennt man sich auch dann nicht "mal eben so", sondern meist erst nach langen Monaten voller Beziehungsarbeit, Austesten von Schmerzgrenzen, etc. Einfach weiö man schon sehr viel in diese Beziehung investiert hat, weil sie quasi das Fundament des gemeinsamen Lebens darstellt, weil häufig Dinge wie gemeinsames soziales Umfeld, Wohnung, Kinder, Erinnerungen und Träume dran hängen. Und weil man sich halt dafür entschieden hat und zu seinem Wort stehen will - und daran glaubt, dass dasselbe auch für den Anderen gilt.
In der "lockeren" Phase hingegen reicht oft schon eine kleine Macke, damit man sagt "och nee, darauf hab ich keine Lust, warum soll ich mir da Mühe geben". Denn man verliert ja nichts weiter als einen Menschen, der einem gerade voll auf die Nerven geht und der sich eh nicht festgelegt hat - und ein paar Träume, die man aber auch behalten und auf einen Anderen projizieren kann.
Dieses Verhalten hat sich m.E. nicht wesentlich geändert. Was sich aber anscheinend geändert hat, ist der Anteil der Leute, die sehr lange in der "lockeren" Phase verweilen. Die diese sogar als ihr Beziehungsideal sehen und gar nicht an einem Übergang in die feste Form interessiert sind.
Und da in dieser Phase die Trennung halt vergleichsweise leicht ist, steigt mit dem Anteil der lockeren Beziehungen natürlich auch die Zahl der Trennungen - und letztlich kann da auch der Eindruck entstehen, man suche nach Mackenfreiheit. Denn wie gesagt: die Trennungen in dieser Phase passieren oft wegen scheinbar kleiner Macken. Oder auch wegen großer Macken, die von Anfang an da waren, die aber für was Lockeres durchaus zu akzeptieren waren.
Woher aber nun dieser Trend zur langen Nichtfestlegung kommt? Keine Ahnung.
Und wenn ja, als Folgefrage davon: ob das was mit geändertem Partnersuchverhalten, speziell Onlinebörsen zu tun hat, nach der Idee "irgendeiner von meinen elfunddreißig Tindermatches wird doch wohl keine Macke haben" ... oder stattdessen Ausdruck genereller Änderungen, siehe "Generation Safe Spaces" oder "Generation Snowflake" ...
Eher Generation Unverbindlich. Allein die scheinbare Verfügbarkeit vieler Alternativen kann es ja nicht sein, die einen Menschen daran hindert, sich für einen anderen zu entscheiden - und sich den Arsch aufzureißen, um diese Entscheidung mit Leben zu füllen. Immerhin gibt es auch Menschen, die sich trotz 500 Tindermatches für einen einzigen anderen Menschen entscheiden können - und andere, die sich trotz Alternativenmangels nicht festlegen können.
Und ich würde das Etikett jetzt auch nicht der ganzen Generation aufdrücken. Zum Glück finden sich immer noch Menschen, die nach ein paar Kennenlernmonaten JA zueinander sagen - und beginnen, sich ein gemeinsames Leben mit
zumindest fünfzigprozentiger Aussicht auf ein Happyeverafter aufzubauen. Sogar ( inzwischen sehr ruhig gewordene) Forumsmitglieder ...